Die Mehrheit unserer Freunde, die zum Teil mit Russland sympathisiert hatten, hasste die Russische Föderation seit Beginn des Krieges heftig wegen aller Leiden, die er brachte. Zwar gab es auch solche, die bis zum Ende prorussisch blieben. Das will einem nicht in den Kopf – die Luftwaffe greift uns an, die Wohnungen werden bombardiert, wir sitzen im Keller, aber die Leute bewundern weiterhin die russische Welt. An allem sind die Ukrainischen Streitkräfte schuld, Nazis, sie verstecken sich hinter uns wie mit einem lebenden Schutzschirm usw. Obwohl ich nicht wahrnahm, dass in unserem Hof oder im Nachbarhof ukrainische Kriegstechnik stand. Aber unser Viertel haben sie in Stücke gerissen. Ich weiß nicht, wohin sie gezielt haben, aber direkt hinter unserem Haus war ein Park – und dort tat sich ein riesiger, zehn Meter tiefer Bombentrichter auf – selbst in Filmen hatte ich einen solchen Trichter nicht gesehen.
Man musste uns von niemandem befreien
Man musste uns von niemandem befreien. Wir lebten frei in Mariupol, sprachen Russisch, keine Nazis behinderten die jüdische Gemeinde. An allen Tagen des Chanukka-Festes stand ein riesiger Chanukka-Leuchter am Theater.
Am 18. März kam das Gerücht auf, dass von der Bluttransfusionsstation des Krankenhauses im 17. Mikrobezirk Evakuierungsbusse nach Berdjansk abfahren. Am 20. beschlossen wir morgens dorthin zu gehen – der Proviant ging schon zu Ende. Und zudem machten die Kellernachbarn auch Anstalten wegzufahren.
Als wir in den Bus stiegen, war er schon übervoll. Am ersten Kontrollpunkt hielten wir, als wir Mariupol verließen. Dort mussten sich alle ausziehen, sie suchten nach Tätowierungen, dabei war es draußen sehr kalt. Ich erinnere mich, dass ich zitterte, Wind blies, aber sie befahlen, die Hose herunterzuziehen und die Knie zu zeigen.
Sie brachten uns nur bis Wolodarsk – das ist direkt hinter der Stadt, wir wurden in einer Schule untergebracht, die in einen vorübergehenden Aufenthaltsort für Flüchtlinge umgewandelt worden war. Die vorherigen Verbindungen gab es nicht mehr, wir wussten nicht, wo unsere Eltern sich aufhielten und ob sie herausgekommen waren. Bald wurde klar, dass es die versprochenen Autobusse nach Berdjansk nicht geben würde, stattdessen erschien ein Transport nach Rostow – sie schickten die Leute nach Russland. Viele machten Gebrauch davon – ihnen war es schon egal, wohin sie fuhren, wenn sie nur in Sicherheit waren. Übrigens hörte man in Wolodarsk auch, wie die Raketen in Mariupol pfiffen.
Da es keine Verbindung gab, beschlossen wir, zu den Eltern meiner Frau zu ziehen – sie leben in der Volksrepublik Donezk, 40 Kilometer von Donezk entfernt. Nach nur drei Tagen gelang es uns jemanden zu finden, der uns gegen Bezahlung dorthin fuhr. In Dokutschajewsk verbrachten wir eine Nacht in einem Flüchtlingszentrum, von dort schafften wir es, die Eltern meiner Frau anzurufen und am selben Tag kam mein Schwiegervater im Auto, um uns zu holen. Das war am 23. März.
Zwei Wochen verbrachten wir bei ihnen und kamen wieder zu uns. Insbesondere erzählten sie nicht weit und breit, woher wir kamen, aber ich war angenehm überrascht – die Leute nahmen die Situation, wie sie ist, sie nannten den Krieg nicht „Spezialoperation“, sie leierten nicht dauernd herunter „wir haben es acht Jahre ausgehalten und ihr stöhnt schon nach einem Monat“. Im Gegenteil sie haben Mitgefühl – wir verstehen, dass unsere acht Jahre nicht an das heranreichen, was in Mariupol in einem Monat geschah, als die Stadt vom Gesicht der Erde getilgt wurde. Das wurde natürlich nicht laut gesagt – sie vergessen nicht, wo sie leben und haben Angst, den Mund aufzutun.