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Mariupol
Manchmal war das Bombardement so stark, dass wir das Feuer direkt in den Hauseingängen machen mussten
Juri Dorochow, Sportjournalist
Mariupol. Krieg
Am 24.sollte ein Freund aus Israel zu mir kommen, der im vergangenen Jahr eingebürgert worden war. Genau um 5 Uhr morgens war sein Abflug. Um 4.30 Uhr wurde ich von einer SMS geweckt, der Freund teilte mir mit, dass der Flug storniert sei, und schrieb gleichzeitig, dass in der gesamten Ukraine der Krieg begonnen habe. Das machte mich endgültig wach. Ich nahm meine Papiere und einen Notfallkoffer. Nachdem Putin Lugansk und die Volksrepublik Donezk anerkannt hatte, war mir klar, dass das Unausweichliche eintreten, sich aber auf Donbass beschränken würde.

Die erste Empfindung war Verwirrtheit, die Angst vor dem Unbekannten. Die Hoffnung auf Verhandlungen schwand mit jedem Tag dahin, die Verzweiflung blieb. Bis zum 4. März lebten wir in unserer Wohnung, verklebten die Fenster und verbarrikadierten uns. Aber dann erfolgten starke Angriffe in unserem Bezirk, die benachbarten Häuser wurden getroffen, die Fenster bebten – ich begriff, dass sie im nächsten Augenblick herausfliegen würden, und wir stiegen in den Keller hinab. Wir wohnen in einem großen Haus mit acht Eingängen, deshalb kamen im Keller ungefähr 200 Leute zusammen, unter ihnen auch Menschen aus den Nachbarhäusern, viele mit Kindern und Haustieren und auch eine alte bettlägerige Frau von 97 Jahren.

Wohngebäude nach Beschuss
Wir konnten noch von Glück sagen, der Keller war befestigt und in Abschnitte unterteilt wie ein Zug, in Abzweigungen – in getrennte Räume.

Die Leute versuchten, wieder etwas Ordnung ins Leben zu bringen - jemand holte ein Sofa herunter, einen Tisch, Vorhänge wurden aufgehängt, man besorgte Kerosinlampen, Taschenlampen und Kerzen. Zunächst übernachteten wir dort bloß, aber seit dem 8. März, als die Luftwaffe aktiv wurde, verließen wir den Keller drei Tage nacheinander nicht. Es gab keinen Strom, doch als die Fenster mit Rahmen rausgeflogen waren, konnten wir uns nicht mehr in der Wohnung aufhalten.

Wir schliefen angekleidet, wickelten uns in Decken ein und rückten dicht aneinander. Die Füße waren trotzdem dauernd eiskalt. Viele beruhigten sich mit Alkohol, spielten Karten, versuchten einander Mut zu machen. Sie scherzten sogar, die Psyche wurde angeregt, es gab keine Panik.

Allerdings weinten die kleinen Kinder, wenn Angriffe geflogen wurden, alles schwankte und bei jedem Einschlag wirberlte Staub auf.

Zum Glück hatten wir noch einige Vorräte – wir hatten am ersten Tag eingekauft, einige Besitzer hatten selbst ihre Filialen geöffnet – es geschah unter der Kontrolle von Soldaten – wir hatten beschlossen, alles außer Alkohol zu nehmen. Trotzdem sparten wir, da wir nicht wussten, wann sich die Situation normalisieren würde. Unsere Nachbarn versorgten uns wenigstens einmal täglich mit warmem Essen. Als die Vorräte zu schwinden begannen, suchten wir eine nicht weit von unserem Haus entfernte Bäckerei auf, nahmen einige Säcke mit Mehl mit und backten Fladenbrot – ich denke, die meisten Mariupoler können ähnliche Geschichten erzählen.

Mit dem Wasser war es schwieriger – mit dem Trinkwasser sparten wir, versuchten das Regenwasser aus dem Regenentwässerungssystem zu sammeln, kochten es ab und bereiteten dann mit diesem Wasser unser Essen. In der erwähnten Bäckerei fanden wir einen Boiler, aus dem wir 100 Liter Brauchwasser abließen.

Als wir Mariupol am 20. März verließen, hatten meine Frau und ich zusammen weniger als einen halben Liter Trinkwasser. Das war einer der Gründe, die uns zur Evakuierung trieben.

In meinem Haus brannten von acht Hauseingängen vier völlig aus

Manchmal war das Bombardement so stark, dass wir Feuer direkt in den Hauseingängen machen mussten. Und auch das rettete uns nicht immer. Da war ein junger Bursche, unser Keller-Nachbar. Er ging hinaus, um den Teekessel im Hauseingang aufs Feuer zu setzen, und etwas flog direkt ins Haus, sein Arm wurde durch Splitter durchschlagen. Mit ihm hatte es noch einen jungen Mann erwischt – er erlitt eine Quetschung und ein Splitter drang in sein Bein. Der Vater meines Schwagers starb – ich kenne die Umstände nicht, mein Schwager ging zu ihm und entdeckte seine Leiche im Eingang.

Überhaupt waren im Keller nicht wenig Verletzte. Am Tag des ersten Fliegerangriffs führte eine Frau ihren Hund aus und sie traf ein Splitter direkt auf den Kopf – man sagte, sie würde den Morgen nicht mehr erleben. Sie hielt sich ungefähr eine Woche, dann brachte ihre Tochter sie in ein nahe gelegenes Krankenhaus und ihr weiteres Schicksal ist mir nicht bekannt.

Wir wohnten nahe an einem Busbahnhof – der Angriff erfolgte von hier. In meinem Haus brannten von acht Hauseingängen vier völlig aus. Und das Haus gegenüber – Kuprina 19, verbrannte vollständig, es war ganz schwarz, ein direkter Treffer, das Dach fiel herunter. Nicht weit von uns entfernt befand sich ein Kindergarten – er wurde in der zweiten Märzhälfte zerbombt. Einen Kilometer von uns ist ein Krankenhaus (im 17. Wohnkomplex) – auch das wurde einige Male angegriffen. Als wir wegfuhren, standen dort schon Volksrepublik Donezk-Soldaten.

Nachdem unser gesamter Bezirk von der Luftwaffe und der Artillerie platt gemacht worden war, kam die Infanterie, einige Panzer machten direkt im Hof Halt. Wir gingen zu ihnen und baten nicht zu schießen, hier seien nur friedliche Bewohner. Sie sahen nicht wie Russen aus, offensichtlich waren es Mobilisierte aus den Volksrepubliken Donezk und Lugansk.

Einmal machte die Information die Runde, dass auf der Feuerwehr-Station russische Soldaten Wasser und irgendwelche humanitäre Hilfen ausgäben. Wir kamen hin, aber es handelte sich nicht um humanitäre Hilfe, sondern um bei einer früher dort stationierten Einheit der Streitkräfte der Ukraine erbeutete Lagerbestände. Die Russen verhielten sich härter, sie sagten, was für Menschen sind denn eure Verteidiger – alle haben sich ergeben.

Man musste uns von niemandem befreien. Wir lebten frei in Mariupol, sprachen Russisch, keine Nazis behinderten die jüdische Gemeinde. An allen Tagen des Chanukka-Festes stand ein riesiger Chanukka-Leuchter am Theater
Die Mehrheit unserer Freunde, die zum Teil mit Russland sympathisiert hatten, hasste die Russische Föderation seit Beginn des Krieges heftig wegen aller Leiden, die er brachte. Zwar gab es auch solche, die bis zum Ende prorussisch blieben. Das will einem nicht in den Kopf – die Luftwaffe greift uns an, die Wohnungen werden bombardiert, wir sitzen im Keller, aber die Leute bewundern weiterhin die russische Welt. An allem sind die Ukrainischen Streitkräfte schuld, Nazis, sie verstecken sich hinter uns wie mit einem lebenden Schutzschirm usw. Obwohl ich nicht wahrnahm, dass in unserem Hof oder im Nachbarhof ukrainische Kriegstechnik stand. Aber unser Viertel haben sie in Stücke gerissen. Ich weiß nicht, wohin sie gezielt haben, aber direkt hinter unserem Haus war ein Park – und dort tat sich ein riesiger, zehn Meter tiefer Bombentrichter auf – selbst in Filmen hatte ich einen solchen Trichter nicht gesehen.

Man musste uns von niemandem befreien

Man musste uns von niemandem befreien. Wir lebten frei in Mariupol, sprachen Russisch, keine Nazis behinderten die jüdische Gemeinde. An allen Tagen des Chanukka-Festes stand ein riesiger Chanukka-Leuchter am Theater.

Am 18. März kam das Gerücht auf, dass von der Bluttransfusionsstation des Krankenhauses im 17. Mikrobezirk Evakuierungsbusse nach Berdjansk abfahren. Am 20. beschlossen wir morgens dorthin zu gehen – der Proviant ging schon zu Ende. Und zudem machten die Kellernachbarn auch Anstalten wegzufahren.

Als wir in den Bus stiegen, war er schon übervoll. Am ersten Kontrollpunkt hielten wir, als wir Mariupol verließen. Dort mussten sich alle ausziehen, sie suchten nach Tätowierungen, dabei war es draußen sehr kalt. Ich erinnere mich, dass ich zitterte, Wind blies, aber sie befahlen, die Hose herunterzuziehen und die Knie zu zeigen.

Sie brachten uns nur bis Wolodarsk – das ist direkt hinter der Stadt, wir wurden in einer Schule untergebracht, die in einen vorübergehenden Aufenthaltsort für Flüchtlinge umgewandelt worden war. Die vorherigen Verbindungen gab es nicht mehr, wir wussten nicht, wo unsere Eltern sich aufhielten und ob sie herausgekommen waren. Bald wurde klar, dass es die versprochenen Autobusse nach Berdjansk nicht geben würde, stattdessen erschien ein Transport nach Rostow – sie schickten die Leute nach Russland. Viele machten Gebrauch davon – ihnen war es schon egal, wohin sie fuhren, wenn sie nur in Sicherheit waren. Übrigens hörte man in Wolodarsk auch, wie die Raketen in Mariupol pfiffen.

Da es keine Verbindung gab, beschlossen wir, zu den Eltern meiner Frau zu ziehen – sie leben in der Volksrepublik Donezk, 40 Kilometer von Donezk entfernt. Nach nur drei Tagen gelang es uns jemanden zu finden, der uns gegen Bezahlung dorthin fuhr. In Dokutschajewsk verbrachten wir eine Nacht in einem Flüchtlingszentrum, von dort schafften wir es, die Eltern meiner Frau anzurufen und am selben Tag kam mein Schwiegervater im Auto, um uns zu holen. Das war am 23. März.

Zwei Wochen verbrachten wir bei ihnen und kamen wieder zu uns. Insbesondere erzählten sie nicht weit und breit, woher wir kamen, aber ich war angenehm überrascht – die Leute nahmen die Situation, wie sie ist, sie nannten den Krieg nicht „Spezialoperation“, sie leierten nicht dauernd herunter „wir haben es acht Jahre ausgehalten und ihr stöhnt schon nach einem Monat“. Im Gegenteil sie haben Mitgefühl – wir verstehen, dass unsere acht Jahre nicht an das heranreichen, was in Mariupol in einem Monat geschah, als die Stadt vom Gesicht der Erde getilgt wurde. Das wurde natürlich nicht laut gesagt – sie vergessen nicht, wo sie leben und haben Angst, den Mund aufzutun.

Wir nahmen einen Umweg und flogen am Vorabend des Pessach-Festes nach Israel. Wir schafften es. Damals dachte ich, wie symbolisch der von uns gegangene Weg war und wie unser persönlicher Exodus (Alija) in den historischen Pessach passt
Schon als wir auf dem Flughafen in Tiflis saßen, rätselten wir, ob wir es schaffen würden zum ersten Seder zu landen

Dann gingen wir mit der Familie eines anderen jüdischen Flüchtlings aus Mariupol – Maksim Schischlowa – nach Russland. Er war bei einem Beschuss verletzt worden. Wir wurden zur Grenze gebracht, die wir zu Fuß überschritten und hinter der ein Bus wartete, den die jüdische Gemeinde in Rostow geschickt hatte. Uns schockierte im positiven Sinne die riesige Hilfe der Gemeinde – sowohl in moralischer als auch in materieller Hinsicht. Ständig fragten sie, was wir brauchten – Kleidung, Medikamente, alles was von Nutzen war.

In Russland verstanden übrigens auch viele, was da vor sich ging, aber sie seufzen: „Wir können nichts machen und haben keinen Einfluss. Als wir erwähnten, dass wir aus Mariupol waren – zum Beispiel in einem Geschäft, zeigten die Leute Mitleid, fügten aber hinzu: „Das hat auch eine gute Seite, man wird die Stadt neu aufbauen“ usw. Mit solchen Menschen habe ich sogar nicht einmal gestritten. Selbst wenn sie wieder aufbauen, wer wird die Menschen zurückbringen?

Wir nahmen einen Umweg und flogen am Vorabend des Pessach-Festes nach Israel. Schon als wir auf dem Flughafen in Tiflis saßen, rätselten wir, ob wir es schaffen würden zum ersten Seder zu landen – wir waren zu fast 90 Leuten. Wir schafften es. Damals dachte ich, wie symbolisch der von uns gegangene Weg war und wie unser persönlicher Exodus (Alija) in den historischen Pessach passt.

Tränen traten mir in die Augen, als das Flugzeug landete. Einen Tag zuvor waren meine ‚Eltern gelandet. Sie waren über Moldawien gekommen, wir hatten keine Verbindung zu ihnen. Wie es schien, waren sie vor uns nach Berdjansk gefahren. Bis jetzt treffen Leute ein – ich sehe in unserem Hotel neue Gesichter.

Ein besonderer Verdienst kommt dabei unserem Rabbiner Menachem-Mendel Kohen zu. Er hat sehr viel für die Gemeinde getan und tut es noch, indem er bei der Evakuierung der Menschen hilft.

Wir wurden in Israel sehr gut aufgenommen. Am ersten Tag im Hotel besuchte uns die Ministerin für Einwanderung – sie sprach mit jedem, fragte, womit sie helfen könnten. Wie wohltuend…

Obwohl ich bis heute immer noch Angst vor den Erinnerungen habe…

Die Zeugenaussage wurde am 25. April 2022 aufgezeichnet

Übersetzung: Dr. Dorothea Kollenbach