Die Nachbarn gingen telefonieren – nicht einmal alle ihre Körperteile konnten gefunden werden
Meine Frau ist Operationsschwester. Wir gingen auf ihre Station. Ich ließ den Leiter der Neuroreanimation holen. Meine Mutter wurde operiert, kam an den Tropf und erhielt ein Antibiotikum. Operation – das ist ein großes Wort für die Behandlung: man zog mit einem Faden die Wunde zusammen, damit sie nicht klaffte. Es wurde nichts fixiert, das Bein baumelte weiterhin an den Weichteilen. Zu dieser Zeit fanden Straßenkämpfe statt, bei uns nahmen sie zwei ukrainische Soldaten gefangen.
Ich ging zu Fuß nach Hause und ließ meinem Vater das Auto da. Überall aus Maschinengewehren zerschossene Autos, in einem Schiguli ein Ehepaar – sehr viele sahen sie, Kontrollpunkt in Richtung Wolodarsk. Sie schossen einfach. So saßen die Toten wahrscheinlich schon seit einer Woche da. Passanten zapften Treibstoff von ihrem Auto ab, weil die Generatoren laufen mussten und man irgendwie überleben wollte – wie im Zweiten Weltkrieg, als man den Toten die Kleider auszog.
Am nächsten Tag kam mein Vater in dem schon halb ruinierten Auto heim, von Granaten zersplittert. So ging er fast eine Woche zu Fuß ins Krankenhaus, holte Wasser an einem Brunnen und brachte es den Patienten – in den Fluren starben die Verletzten fast vor Durst. Auch das Essen wurde geteilt, die Leute hatten eine Woche nichts gegessen. Die Russen brachten nur einmal Wasser für das ganze Krankenhaus – wahrscheinlich hundert Liter. Und das für fünf Tage.
Einmal kam ich meine Mutter besuchen und frage die jungen russischen Soldaten: „Warum seid ihr hier?“ Einer rief den Kommandeur: „Wer bist du, einer von den Asow-Leuten?“ Sie begannen mich auszuziehen, meine Papiere zu kontrollieren. „Wir sind gekommen, um euch von den Asow-Faschisten zu befreien“, sagt er. Aber wen haben sie denn angerührt, diese Asow-Leute?
Mein Vater kam nur um Lebensmittel zu holen nach Hause und ging wieder. Wir umarmten uns und ich wusste nicht, ob ich ihn wiedersehen würde. Er kommt am nächsten Tag und ist Gott sei Dank am Leben. Aber viele gingen und kehrten nicht zurück. So gingen etwa meine Nachbarn telefonieren – fünf Frauen und ein Mann. Eine Mine tötete sie auf der Stelle – es wurden nicht einmal alle Körperteile gefunden, von einem die Beine, von einem anderen ein halber Kopf. Sie hatten die ganze Zeit im Keller der Schule gegenüber gesessen. Und da kamen sie herauf auf den Stroiteli-Prospekt und gelangten nicht einmal zu dem Ort, von wo sie anrufen wollten.
Unsere Nachbarin hat zwei Söhne – einer bei den Ukrainischen Streitkräften, der zweite Sohn ging einen Punkt aufzusuchen um zu telefonieren, er ging und kehrte nicht zurück. Im Allgemeinen war es so, dass jemand, wenn er nach drei Tagen nicht zurückkam, wahrscheinlich tot war.
Ein Verwandter des Schwiegervaters meines Bruders verschwand einfach – er war zwei Wochen verschwunden und wurde überall gesucht – vergebens. Heute unterhältst du dich mit jemandem und morgen ist er nicht mehr da. Unter meinen Bekannten sind viele Verwundete und zu Tode Gekommene. Und 90 %, wenn nicht mehr, haben ihre Wohnung verloren.