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Mariupol
Granatsplitter durchschlugen meiner Mutter die Beine – sie beugte sich schützend über ihren Enkel
Wadim, Privatunternehmer, Inhaber einer Tankstelle
Die Nachwirkungen der Belagerung von Mariupol, 12. März 2022
Am 24. um 5.30 morgens weckte mich meine Tochter aus erster Ehe, die in Charkow lebt: „Papa, der Krieg hat begonnen, wir werden bombardiert!“ Meine Frau und ich schliefen noch, neben uns unser zehn Monate alter Sohn. Ich glaubte es nicht und ging…

Schon gleich am ersten Tag kauften wir Wasser, Michprodukte und Pampers, wahrscheinlich für ein halbes Jahr im Voraus. Am fünften Tag schlossen alle Geschäfte und es begannen Plündereien und Kämpfe in den Außenbezirken der Stadt. Damals sah ich die ersten ausgebrannten Autos und die ersten Leichen…

Eine Straße in Mariupol während der Blockade der Stadt durch russische Truppen

Alle Türen und 22 Fenster mitsamt den Rahmen flogen wie Papier heraus


Anfang März wurden Kommunikation und Licht abgeschaltet, aber wir waren in einer privilegierten Lage. In unserem großen Privathaus lagerte ich gleich am ersten Tag 2,5 Tonnen Wasser ein und Vorräte an Benzin, mit dem ein Generator betrieben wurde. In einem Heizkessel wurden Heizöl, Brennholz und Kunststoff verbrannt. Der Kampf ums Überleben nahm einen ganzen Tag in Anspruch, aber dadurch lebte meine Familie bis zum 12. März in relativem Komfort…

An diesem Tag füllte ich mit meinem Vater das Wasser aus der Zisterne draußen in das Reservoir unseres Hauses. Meine Mutter stellte den Kinderwagen mit dem Kleinen nach draußen. Er schlief unter dem Verdeck. Um ungefähr 9.30 Uhr flog die erste Granate in die Schule gegenüber unserem Haus. Meine Mutter sprang aus dem Haus, um ihren Enkel hereinzuholen und in diesem Augenblick flog noch eine Granate – direkt in unseren Hof. Die Soldaten sagten später, es sei eine 152er Haubitze gewesen. Auf der Stelle flogen, als seien sie aus Papier, alle Türen und 22 Fenster mit ihren Rahmen heraus. Die Beine meiner Mutter wurden von Granatsplittern durchschlagen – sie deckte ihren Enkel mit dem eigenen Körper. Der Kinderwagen brach mittendurch, doch was meinen Sohn anging, so war ihm nichts passiert. Ich sah eine Staubsäule und hörte meinen Vater schreien. Wir zogen meine Mutter schnell ins Haus, sie wurde ganz schlaff – sie hatte schwere Verwundungen und Blutverluste. Durch mein Schreien kam sie wieder etwas zu sich. Das eine Bein banden wir mit der Schnur eines Elektrorasierers ab, das andere mit einem Gürtel.

Ein Splitter hatte den Knochen ihres Beins durchschlagen, das Bein baumelte unterhalb des Knies an den Weichteilen. Ich hatte drei Autos, zwei davon waren durch die Explosion zerstört, abеr mit dem dritten eilten wir in die Notaufnahme. Dort wurde sie verbunden und man sagte uns, es sei schon ein Wunder, wenn jemand nach so einem Trauma bis zum Morgen durchhielte. Ich log ihr natürlich vor, die Ärzte hätten versprochen, es käme alles in Ordnung. Ich begann die Verlegung meiner Mutter in das Krankenhaus Nr. 2 – das für uns zuständig war - zu arrangieren. In diesem Augenblick war es bereits von den Russen eingenommen. Kurz und gut, wir trugen meine Mutter heraus und legten sie in unser Auto – kein einziger Notarztwagen war bereit, sie zu transportieren, weil die Russen die Autos konfiszierten und das medizinische Personal als Geiseln nahmen.

Wir gelangten ans Ziel. Die Russen überprüften uns und meinen Vater, ob wir Soldaten waren. Im Krankenhaus gab es keinen Strom. Der Generator versorgte nur den Keller und den Operationssaal in der zweiten Etage mit Strom. Deshalb verwandelte sich der Operationssaal in eine Küche und in alles Mögliche, aber hier wurde auch operiert. Die Instrumente konnten nicht sterilisiert werden und es gab so auch keine Möglichkeit, sterile Verbände herzustellen und wie sollte man dann mit offenen 15 – 20 cm langen tiefen Fleischwunden umgehen, wenn all das nicht gegeben war? Medikamente waren auch Gold wert. Der Leiter der Traumatologie sagte zu mir: „Unter solchen Bedingungen werde ich nicht arbeiten. Und zudem noch die ständigen russischen Bombardierungen, wenn auch nicht gezielt, so schlagen sie doch im Krankenhaus ein.“

Das Trauma der Mutter von Vadim
Vom Befragten zur Verfügung gestelltes Foto
Das Trauma der Mutter von Vadim
Vom Befragten zur Verfügung gestelltes Foto
Das Trauma der Mutter von Vadim
Vom Befragten zur Verfügung gestelltes Foto
Städtisches Krankenhaus Nr. 2 (Mariupol)

Die Nachbarn gingen telefonieren – nicht einmal alle ihre Körperteile konnten gefunden werden


Meine Frau ist Operationsschwester. Wir gingen auf ihre Station. Ich ließ den Leiter der Neuroreanimation holen. Meine Mutter wurde operiert, kam an den Tropf und erhielt ein Antibiotikum. Operation – das ist ein großes Wort für die Behandlung: man zog mit einem Faden die Wunde zusammen, damit sie nicht klaffte. Es wurde nichts fixiert, das Bein baumelte weiterhin an den Weichteilen. Zu dieser Zeit fanden Straßenkämpfe statt, bei uns nahmen sie zwei ukrainische Soldaten gefangen.

Ich ging zu Fuß nach Hause und ließ meinem Vater das Auto da. Überall aus Maschinengewehren zerschossene Autos, in einem Schiguli ein Ehepaar – sehr viele sahen sie, Kontrollpunkt in Richtung Wolodarsk. Sie schossen einfach. So saßen die Toten wahrscheinlich schon seit einer Woche da. Passanten zapften Treibstoff von ihrem Auto ab, weil die Generatoren laufen mussten und man irgendwie überleben wollte – wie im Zweiten Weltkrieg, als man den Toten die Kleider auszog.

Am nächsten Tag kam mein Vater in dem schon halb ruinierten Auto heim, von Granaten zersplittert. So ging er fast eine Woche zu Fuß ins Krankenhaus, holte Wasser an einem Brunnen und brachte es den Patienten – in den Fluren starben die Verletzten fast vor Durst. Auch das Essen wurde geteilt, die Leute hatten eine Woche nichts gegessen. Die Russen brachten nur einmal Wasser für das ganze Krankenhaus – wahrscheinlich hundert Liter. Und das für fünf Tage.

Einmal kam ich meine Mutter besuchen und frage die jungen russischen Soldaten: „Warum seid ihr hier?“ Einer rief den Kommandeur: „Wer bist du, einer von den Asow-Leuten?“ Sie begannen mich auszuziehen, meine Papiere zu kontrollieren. „Wir sind gekommen, um euch von den Asow-Faschisten zu befreien“, sagt er. Aber wen haben sie denn angerührt, diese Asow-Leute?

Mein Vater kam nur um Lebensmittel zu holen nach Hause und ging wieder. Wir umarmten uns und ich wusste nicht, ob ich ihn wiedersehen würde. Er kommt am nächsten Tag und ist Gott sei Dank am Leben. Aber viele gingen und kehrten nicht zurück. So gingen etwa meine Nachbarn telefonieren – fünf Frauen und ein Mann. Eine Mine tötete sie auf der Stelle – es wurden nicht einmal alle Körperteile gefunden, von einem die Beine, von einem anderen ein halber Kopf. Sie hatten die ganze Zeit im Keller der Schule gegenüber gesessen. Und da kamen sie herauf auf den Stroiteli-Prospekt und gelangten nicht einmal zu dem Ort, von wo sie anrufen wollten.

Unsere Nachbarin hat zwei Söhne – einer bei den Ukrainischen Streitkräften, der zweite Sohn ging einen Punkt aufzusuchen um zu telefonieren, er ging und kehrte nicht zurück. Im Allgemeinen war es so, dass jemand, wenn er nach drei Tagen nicht zurückkam, wahrscheinlich tot war.

Ein Verwandter des Schwiegervaters meines Bruders verschwand einfach – er war zwei Wochen verschwunden und wurde überall gesucht – vergebens. Heute unterhältst du dich mit jemandem und morgen ist er nicht mehr da. Unter meinen Bekannten sind viele Verwundete und zu Tode Gekommene. Und 90 %, wenn nicht mehr, haben ihre Wohnung verloren.

Bombardierung von Mariupol durch russische Truppen
Heute unterhältst du dich mit jemandem und morgen ist er nicht mehr da. Unter meinen Bekannten sind viele Verwundete und zu Tode Gekommene. Und 90 %, wenn nicht mehr, haben ihre Wohnung verloren

Wir beschlossen auf die Krim zu fahren


Am fünften Tag holten wir meine Mutter nach Hause und meine Frau und ich verbanden sie. Ich fertigte aus Holz einen Fixateur für ihr Bein, weil ihr Fuß zur Seite gedreht war. Wir stellten einen Infusionsständer her und schlossen den Tropf an, aber am nächsten Tag wurde ihr Zustand schlechter. Meine Frau machte sich über den Zustand vor einem Koma kundig – Stupor, Sopor und danach das tatsächliche Koma. Als der Sopor – ein tiefer pathologischer Schlaf – einsetzte, brachte ich sie ins Auto. Ihr Puls war fast nicht mehr zu tasten, die Sauerstoffsättigung 72, kalte Hände und Füße. Bei unserer Ankunft im Krankenhaus röchelte sie schon und verlor das Bewusstsein.

Eine Stunde später kam sie auf der Intensivstation wieder zu sich und nach 12 Tagen transportierten wir sie auf die Krim. Wir wollten eigentlich nach Saporoschje, doch nach dort hätte es zwei Tage und zwei Nächte gedauert – das hätte sie einfach nicht überstanden. Oder die Eltern wären unterwegs erschossen worden – viele zerschossene Autos standen am Straßenrand. Und so beschlossen wir, auf die Krim zu fahren, umso mehr, da wir Verwandte in Sewastopol hatten. Nach Sewastopol ließen uns die Russen nicht fahren. Meine Mutter wurde nach Dschankoj gebracht. Dort wurde sie auch operiert, bekam Bluttransfusionen und es wurde ihr wirklich geholfen. Der Arzt war sehr gut, aber es herrschten einfach schreckliche Bedingungen und das Gebäude war praktisch dem Einsturz nahe.

Ich bitte um Verzeihung, man ruft aus dem „Sochnut“ an – meine Mutter saß in Georgien fest und wir holen sie von dort heraus, deshalb bin ich parallel mit dem israelischen Rabbi in Verbindung, um sie schneller zu transportieren.

Aus Dschankoj schrieb meine Mutter an den Rabbi von Mariupol Mendl Kohen mit der Bitte, mich, meine Frau und das Kind aus der Stadt zu bringen. Gleichzeitig suchten Verwandte in Israel Mittel und Wege, um uns zu evakuieren. Wir hatten keine Verbindung, erst später haben wir alles erfahren.

Da lag unter einer Plane die Leiche eines Mannes – sein Gesicht war zerrissen. Das ist schon fast ein Attribut der Straße – die Toten liegen da herum, du gehst an ihnen vorbei und schaust.
Während wir so lebten, ersetzte ich die zerbrochenen Fensterscheiben mit Zellophan, fertigte krumme, schräge provisorische Türen, schraubte die Fenster mit Spanplattenschrauben und füllte sie mit Schaum. Aber da der starke Beschuss andauerte, konnten die Fenster und Türen vier Mal während einer Nacht herausfliegen. Geheizt wurde nur in der zweiten Etage. Das Dach war noch geblieben, aber voller Löcher. Ich hatte keine Zeit dafür. In der ersten Zeit kochten wir auf einem Multikocher, aber dann begannen wir Benzin zu sparen und kochten schon auf einem Feuer. Das normale Leben verwandelte sich in Überleben.

Einige Male begegnete ich Russen. Einmal plünderten sie ein örtliches Geschäft, legten die Waren in Kartons, stellten zwei Muster-Soldaten auf mit dunklen Brillen und vorzüglich gekleidet, alles in taillierter Passform – solche Soldaten hatte ich nur in Hollywood-Filmen gesehen – und ließen es fotografieren. Aber die Tatsache, dass alle Lebensmittel ukrainische Erzeugnisse waren – wen stört das schon, das Bild war schon fertig.

„Wir haben euch doch drei Tage gegeben, um zu verschwinden“

Am 16. März kamen die Russen zu uns – wir müssen den Hof ansehen! Wie, ihr könnt den Hof nicht sehen? Bei uns ist von der Explosion die Umzäunung fast nicht mehr vorhanden – alles ist wie auf einem Präsentierteller sichtbar. Sie kamen ins Haus, gingen zwei Etagen nach oben, sahen sich um, sagten „oh“, welch guter Punkt zum Schießen, fragten, ob wir mit den Ukrainischen Streitkräften in Verbindung stünden, ob hier ukrainische Soldaten seien usw. Als sie weggingen, wunderten sie sich, wie es gekommen sei, dass sie unser Haus und nicht die Milchfabrik getroffen hätten – sie liegt einige Straßen von uns entfernt.

Ein anderes Mal ging ich telefonieren – das nahm immer 3 – 4 Stunden in Anspruch. Einmal schaffte ich es, aus einem bestimmten Winkel in der 8. Etage eines halb ausgebrannten Hauses ins Internet zu kommen, dabei unter Granatfeuer. Ich ging also telefonieren, aber hatte meinen Pass in einer anderen Jacke gelassen. Ich wurde an einem Kontrollpunkt angehalten, ich musste vom Fahrrad absteigen und sie begannen mich zu entkleiden. „Wie hast du es geschafft, dich umzuziehen, wo ist dein Komplize, was erzählst du da?“ Ich sagte, ich wohne nebenan, fünf Minuten mit dem Rad, ich könne meinen Pass bringen. Ja, ja, natürlich. So hätten wir dich auch laufen lassen. Kurz und gut, sie kommandierten zwei etwa vierzigjährige Soldaten zu meiner Begleitung ab. Du kannst dich glücklich schätzen. Sie hätten dich einsperren oder töten können. Unterwegs unterhielten sie sich mit mir, behaupteten, dass in der Ukraine Bücher für die Kindergärten ausgegeben würden, in denen Putin „Chuilo“ genannt würde. Was für Bücher für Kindergärten mit Putin? Und selbst wenn das so wäre, fragte ich, ist das ein Grund, friedliche Bewohner zu ermorden? Den einen Soldaten konnte ich überzeugen, der zweite schwieg wütend. Das war so ein nervöser Typ, als er mich anhielt, drückte er am Gewehrverschluss. Sein Kamerad: „Beruhige dich, er zerrt nicht“. Er fürchtete sich sehr vor Beschuss –„Geht vom Zentrum der Straße weg – geht dorthin, geht hierhin, wenn wir hinkommen, warne deine Frau, wir werden nervös sein“ usw.

Wir gehen, aber dieser Böse brummt: „Man hat euch doch drei Tage gegeben um wegzugehen, was für ein Volk.“ Und da habe ich es nicht ausgehalten. „Hast du eine Wohnung“, frage ich. „Klar“, antwortet er. „Dann stell dir mal vor, du wohnst in deiner Wohnung, deine Papiere sind darin, deine Kindheit hat sich da abgespielt. Und plötzlich kommt irgend so ein Arschloch... und befiehlt dir, innerhalb von drei Tagen auszuziehen! Suchst du deine Sächelchen zusammen und gehst?“ Bis zu meinem Haus gingen wir in tiefem Schweigen…

Ich zeigte also meine Papiere, nahm das Fahrrad und fuhr zur Handelsschule. Da lag unter einer Plane die Leiche eines Mannes – sein Gesicht war zerrissen. Das ist schon fast ein Attribut der Straße – die Toten liegen da herum, du gehst an ihnen vorbei und schaust.

Es gelang mir an dem Tag nicht zu telefonieren, aber am nächsten Tag bekam ich Verbindung. Während ich weg war, kamen Russen. Sie trommelten gegen die Tür, aber meine Frau fütterte gerade das Kind. Dann brachen sie ein Stück vom Zaun ab, drangen ins Haus ein, sahen meine Frau und gingen wieder. So lebten wir, ich ging in das Haus meiner Eltern – ihre Wohnung war ausgebrannt, ein direkter Treffer, sie wohnten in der fünften Etage. Die sechste war auf die fünfte gefallen, das Haus war zweistöckig geworden.

Wohnviertel von Mariupol nach Beschuss
Das Auto des Rabbiners

Einmal gingen wir um nach dem Haus meiner Schwiegermutter zu sehen – es war auch vollständig abgebrannt, das Tor war offen und beschädigt… Auf dem Rückweg erblickten wir ein zerschossenes Auto von Freiwilligen – ein Mercedes Vito - Kombi für Personen und Fracht, Ein Mann und eine Frau saßen vorne, hinten eine alte Frau und vielleicht ihr Enkel. Leichen. Alle Zivilpersonen. Hinten Medikamente, Zahnpasta, physiologische Kochsalzlösung in Schachteln… Russische Panzer standen bei Kirowa, unterwegs kontrollierten sie einige Male die Pässe. Zu Hause angekommen legte ich mich hin, und da kommt meine Frau angelaufen: „Zu uns drängen sie sich durch den Zaun – sie rufen dich." Ich gehe nach draußen. „Bist du Michaltschuk Wadim, Automechaniker? Zu dir hat Rabbi Mendl Kohen ein Auto geschickt. Ein zweites wird es nicht geben.“ Aber ich sorgte für das Haus meines Bruders, für seine Hunde und Fische und fütterte eine Katze, deren Besitzerin meinen Bruder und seine Familie gerettet hatte. Wie das alles zurücklassen?

Sie sagen, fünf Minuten für die Vorbereitung. Wenn du jetzt nicht fährst, werden die Volksrepublik Donezk-Leute die Stadt abriegeln und sie können dich in ihre Armee einberufen. Das sagen wir im Ernst. Zum Katalysator wurde noch, dass einige Tage zuvor die Russen in der Schule direkt vor unserem Haus Stellung bezogen hatten – ihre Panzer hatten die Einzäunung zu Fall gebracht und sie begannen direkt vom Schulhof aus das Feuer zu eröffnen. Granatwerfer, Landesschützenpanzer – das war sehr laut und ich sorgte mich um meinen Sohn, dass sein Nervensystem nur nicht ins Wanken geriet. Kurz und gut, während meine Frau die Vorbereitungen traf, rannte ich zum Haus meines Bruders und bat die Nachbarn, die Hunde zu füttern. Beim Verlassen der Stadt besahen sie meine Hände – aber die sind bei mir sowieso schwielig, ich bin doch Automechaniker und wenn man über dem Feuer arbeitet sowieso schwarz. Sie begannen Fragen zu stellen, aber ließen uns fahren. Das war am 26. März.

Sie brachten uns nach Melekino, wo sie für Juden eine Pension vermieteten. Einige Tage später kam für uns ein Auto aus der Krim – der Rabbi aus Sewastopol hatte sich an der Aktion beteiligt, auch ein Koordinator aus Moskau und viele Leute. Ich kenne unseren Rabbi seit mehr als fünf Jahren. Als er half, uns herauszuholen, blieb er sogar am Schabbat in Kontakt mit uns.

Als wir mit dem Kind in Nikolaewka spazieren gingen, sagte eine Frau, als sie erfuhr, dass wir aus Mariupol kamen: „Ich möchte mich vor Ihnen hinknien.“
Die Kontrollposten (es waren mehr als 50) passierten wie sehr langsam. An jedem mussten wir anhalten, aussteigen, Schultern, Knie und Hals zeigen. Irgendwo nahmen sie Fingerabdrücke, Gesichtsfotos von vorne und im Profil, führten Verhöre durch und als Resultat händigten sie uns einen Papierfetzen mit einem Stempel aus.

Der FSB-Mann verhörte meine Mutter im Krankenhaus bis um vier Uhr morgens

Die Grenze zur Krim überquerten wir zu Fuß, uns empfing ein lächelnder Bursche und ganze drei Minuten war es sehr friedlich. Dann füllte ich irgendeinen Fragebogen aus und ein Soldat führte mich in eine Kläranlage wo schon 200 Menschen saßen. Sie stellten Fragen, die die Gesinnung betrafen: was denken Sie, wie das passiert ist, wer hinter dem steht usw. Sie veranlassten uns, alle Fotos von zerstörten Häusern und technischem Gerät zu entfernen. Wenn du nicht richtig antwortest, beginnen sie schärfer zu fragen. Mein Telefon hatten sie irgendwohin gebracht und dann sagten sie: da gibt es ein Problem. Sie führten mich in ein Zimmer des Inlandsgeheimdienstes FSB. Ich stand da zwei Stunden, dann riefen sie mich und sagen: „Wir wissen alles über dich, los, auf Wiedersehen. Und wenn du erzählen wirst, dass du leicht davongekommen bist, wirst du es bereuen.“ Wie man mir später erklärte, beginnt das Verhör schon mit dem Verhör selbst – sie verfolgen mit der Kamera dein Verhalten.


Nach dem Inlandsgeheimdienst brachten sie mich in die nächste Abteilung, stellten zwei belanglose Fragen, „hau ab“, und entließen mich. Meine Frau und ich schleppten unsere Klamotten über die Grenze und dort erwartete uns ein anderer Mann, um uns in ein Hotel zu bringen. In diesem Hotel in Nikolaewka verbrachten wir einige Tage, es gab ein Wiedersehen mit Verwandten, mit den Eltern und ich besuchte meine Mutter.

Wie nahmen unsere Verwandten die Situation wahr? Die Propaganda wirkt, sie sind für Putin – man hatte ihnen Angst gemacht, dass die Ukraine sie, wenn Russland nicht wäre, bis zum letzten bombardieren würde. Natürlich denken nicht alle so. Als wir mit dem Kind in Nikolaewka spazieren gingen, sagte eine Frau, als sie erfuhr, dass wir aus Mariupol kamen: „Ich möchte mich vor Ihnen hinknien.“ Eine Freundin meiner Frau auf der Krim hat uns sehr unterstützt und weinte über das Geschehene. „Wir machen einen Unterschied zwischen der russischen Regierung und dem Volk, obwohl das schwierig ist.“

Wir beschlossen, meine Mutter nach Sewastopol zu bringen, aber in Dschankoj sagten sie, sie müsse den Flüchtlingsstatus annehmen, sonst würden sie sie nicht entlassen, und man wisse nicht, auf welcher Grundlage man sie gratis behandeln würde. Doch der Arzt meinte, das stimme nicht und rief das Gesundheitsministerium an und das Problem wurde gelöst. Es kam nicht zu einer Erpressung. Denn wenn du den Flüchtlingsstatus erhältst, musst du deine ukrainischen Papiere abgeben und kannst die Russische Föderation einige Zeit nicht verlassen.

Sei es wie es sei, am Abend brachten wir meine Mutter in die Aufnahme des Sewastopoler Krankenhauses, harrten dort noch ein paar Stunden aus und dann vergaßen sie, ihr Essen zu geben - sie hatte fast 40 Stunden nichts gegessen. Außerdem erschien in den Nachtstunden ein Mann vom Inlandsgeheimdienst und verhörte sie bis vier Uhr morgens. Zum Schluss ließen sie sie ein Papier unterschreiben, dass Neonazis und nicht die russische Armee ihr die Verletzungen zugefügt hätten.

Die bisherige Behandlung setzten sie ab und begannen eine ganz andere, von der sie fast umkam.

Es gibt eine Theorie, dass du, wenn du einen Menschen tötest, auf seelischer Ebene auf die eines Tieres sinkst. Als ich mit den russischen Soldaten sprach, die mich wegen meines Passes begleiteten, wurde mir klar, dass sie in seelischer Hinsicht vom rechten Weg abgekommen waren. Und ich unmöglich ein Mensch sein kann, der sie tötet.
Israel hat uns angenehm empfangen

Es war klar, dass wir weg mussten. Zunächst war vorgesehen, dass das Flugzeug nach Israel von Sotschi abfliegen sollte, dort sollte eine Gruppe Juden aus Mariupol aufgenommen werden – ungefähr 115 Menschen. Dann wurde der Ort des Abflugs nach Mineralnyje Wody verlegt. Meine Mutter und noch eine bettlägerige alte Frau brachten sie mit dem Rettungswagen dorthin und wir fuhren mit dem Bus. Als wir ankamen, hatten sie den Flug storniert. Meine Mutter wurde wieder ins Krankenhaus gebracht, die Übrigen gingen in ein Hotel. Aber in der nächsten Nacht erfolgte der Abflug – meine Mutter brachten sie mit dem Rettungswagen zum Flugzeug und legten sie einfach auf einen Sitz. Da war noch ein 19-jähriger Junge mit einer Splitterverletzung am Hals, ihm war ein Arm und ein Bein abgenommen worden, sowie ein Mann mit einer Splitterverletzung am Bein, der in Israel operiert werden sollte.

Von Mineralnyje Wody flogen wir nach Kasachstan, dort wurde aufgetankt und weiter ging es nach Tiflis. Eine ganze Tour. Wir stiegen alle aus, aber meine Mutter trugen sie nicht nach draußen – sie harrte noch etwa vier Stunden im Flugzeug aus. Solange sie an Bord ist, befindet sie sich geografisch immer noch in Kasachstan, aber sobald sie aus dem Flugzeug kommt, trägt der Staat die Verantwortung für eine solche Person. Ich weiß nicht, wer das Problem geklärt hat, schließlich wurde sie herausgebracht. Aber der Flug von Tiflis nach Israel wurde verschoben und es begann ein Streit, wie man sie ins Flugzeug transportieren könne. Die tschechische Fluggesellschaft, bei der Israel das Flugzeug gechartert hatte, leistete Widerstand. Der Flugzeugkapitän weigerte sich, einen Menschen in solchem Zustand ohne Begleitung durch einen Arzt an Bord zu nehmen. Direkt an der Tür drehten sie um und sie blieb mit meinem Vater in Georgien. Da halfen keine Überredungen mehr.

Freitag, den 15. April landeten wir endlich, Israel hat uns angenehm empfangen, wir verteilten uns schnell in Busse und fuhren in Hotels.

Als ich den Ukrainischen Streitkräften half, technische Geräte reparierte, Benzin lieferte, schlugen sie vor, mir Waffen und Ausrüstung zu geben. Aber… es gibt eine Theorie, dass du, wenn du einen Menschen tötest, auf seelischer Ebene auf die eines Tieres sinkst. Als ich mit den russischen Soldaten sprach, die mich wegen meines Passes begleiteten, wurde mir klar, dass sie in seelischer Hinsicht vom rechten Weg abgekommen waren - und ich unmöglich ein Mensch sein kann, der sie tötet.

Obwohl – ich gebe das zu – ich es manchmal gern getan hätte. Denn ihretwegen muss ich mein Leben an einem anderen Ort neu aufbauen, weil alle meine Mühen zunichte geworden sind. Und meine Eltern sind 60 Jahre alt und für sie ist es noch schwieriger, sich in einem neuen Land anzupassen.

Die Zeugenaussage wurde am 18. April 2022 aufgezeichnet

Übersetzung: Dr. Dorothea Kollenbach