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irpin
Als meine Mutter Butscha verließ, zählte sie auf der Straße 11 Leichen
Pawel Selditsch, Reiseführer, jüdischer Landeskundiger
Foto mit freundlicher Genehmigung von Pawel Selditsch
Dass der Krieg ausgebrochen ist, erfuhr ich am 24. Februar morgens um 7 Uhr, als mein Vater anrief und sagte, dass wir bombardiert würden. Anfangs verstand ich es nicht und machte sogar Anstalten, zur Arbeit zu gehen, aber die Lage klärte sich rasch. Trotzdem wunderte ich mich noch bis mittags über die riesigen Menschenschlangen vor den Geschäften – wieso, dachte ich, denn bis zur russischen Grenze war es weit und bei uns würde der Krieg nicht schnell ankommen.

Im vollen Ausmaß wurde mir die Realität um zwei Uhr mittags bewusst, als ich von meinem Fenster aus eine große Kette von Hubschraubern erblickte, die in Richtung Hostomel (ein Städtchen 10 km von Kiew entfernt) flogen. Wie sich dann herausstellte, war das eine russische Luftlandetruppe mit der Aufgabe, den Flugplatz zu besetzen.

Mein Tanach liegt vermutlich immer noch im Keller

Wir nahmen eilig die wichtigsten Dinge zusammen, Geld und Papiere. Dann liefen wir schnell ins Geschäft, kauften Lebensmittel und Wasser und überprüften den Zustand des Kellers unseres neunstöckigen Hauses.

Und dann begannen die Explosionen, die Fensterscheiben bebten. Noch unerfahren, schnappten wir unser Kind und rannten, so wie wir waren, in den Keller, wo sich schon die Bewohner nicht nur unseres, sondern auch der benachbarten Häuser drängten. Inzwischen weiß ich, dass es Flugabwehr war – unsere Artillerie störte die Landeoperation in Hostomel, zerschoss die Landebahn und verhinderte so die Landung der russischen Flugzeuge. Das zog sich über die gesamte erste Nacht hin. Schon gegen Morgen fuhr eine Selbstfahrlafette ganz nah am Haus vorbei und gab einige Schüsse ab.

Das erste Mal, dass Pawel erkennt, dass der Krieg ausgebrochen ist. Im Hintergrund das brennende Hostomel.

Foto mit freundlicher Genehmigung von Pawel Selditsch
In dem kalten Keller waren unglaublich viele Menschen, Kinder verschiedenen Alters weinten vor Schreck. Ganz schlimm wurde es, als Wasser und Strom abgeschaltet wurden. Wasser hatten viele schon vorher vorbereitet und liefen in die Wohnung, um eine Flasche zu holen. Aber ohne Strom riss die Verbindung mit der Außenwelt ab – Explosionen ersetzten uns die Meldungen von der Front.

Das Schrecklichste in einer solchen Situation – das sind die weinenden Kinder, denen man nichts erklären kann. Einige Erwachsene versuchte sie abzulenken, lasen ihnen vor, sangen, spielten Spiele. Meine Tochter hielt es in der ersten Nacht noch aus, aber dann… Ja und auch bei uns ging es mit jedem Tag bergab mit den Kräften und Emotionen. Am ersten Schabbat im Keller zündete ich noch Kerzen an, dann musste gespart werden.

Als sehr interessant erwies sich der Sinn des Buches Kohelet unter den Kriegsbedingungen. Zeit zu lieben, Zeit zu hassen, Zeit für Krieg, Zeit für Frieden… Zuerst las ich auf dem Handy, und als die Batterie erschöpft war, die Druckausgabe. Dieser TANACH liegt wahrscheinlich bis heute im Keller.

Ich wollte nicht wegfahren, weil in Butscha meine Mutter geblieben war, mit der ich lange Zeit keine Verbindung aufnehmen konnte. In ihr fünfstöckiges Haus war eine Granate gefallen – die oberen Etagen brannten aus. Jedes Mal, wenn die Verbindung abriss, habe ich sie in Gedanken beerdigt
In den ersten Tagen waren alle ratlos, erschrocken und erstaunt über die Erzählung von der „Entnazifizierung“. In unserem Keller waren 80% der Menschen russischsprachig. Von wem und wozu uns „befreien“? Aber nach den Neuigkeiten aus dem benachbarten Borodjanka (Siedlung bei Kiew, halb zerstört durch die russische Armee. – Anm. d. Red.) begannen die Menschen Russland zu hassen und wurden zuversichtlich, dass sie siegen, den Angreifer zurückschlagen werden. Sie scherzten unter Tränen, Borodjanka werde ihr Borodino werden.

Wir fuhren los in dem, was wir gerade anhatten, ohne Zeit zu haben, in die Wohnung hinaufzugehen

Der letzte Anstoß zur Evakuierung war der Einschlag von Raketen in das Nachbarhaus, in dem einige Wohnungen ausbrannten. Ich wollte nicht wegfahren, weil in Butscha (eine Stadt 15 km von Kiew entfernt, besetzt von den Russen. – Anm. d. Red.) meine Mutter geblieben war, mit die ich lange nicht erreichen konnte. Ihr fünfstöckiges Haus wurde von einem Geschoss getroffen – die oberen Etagen brannten aus. Jedes Mal, wenn die Verbindung abriss, habe ich sie in Gedanken beerdigt. Und wenn das Netz wieder funktionierte, rief ich hysterisch an und entschuldigte mich für frühere Kränkungen.

Ich war innerlich zerrissen, wusste nicht, was ich tun sollte – versuchen, meine Frau und meine Tochter aus dem Beschuss in Irpen herauszuholen oder mich zu meiner Mutter nach Butscha durchzuschlagen. Unten an ihrem Haus standen Panzer und russische Infanterie.

Unsere Evakuierung erfolgte plötzlich. Im Keller erfuhr meine Frau, dass ihre Freundin versucht, durch einen Korridor wegzufahren und das Auto werde in zehn Minuten starten. Und das ist einen Block von uns entfernt. Wir fuhren so los, wie wir waren, es blieb uns keine Zeit, in unsere Wohnung zu gehen, die Schlüssel ließ ich einem Nachbarn da. Von den Papieren hatte ich nur noch den Pass und den Bibliotheksausweis für die Vernadskij Bibliothek.

Foto mit freundlicher Genehmigung von Pawel Selditsch
Foto mit freundlicher Genehmigung von Pawel Selditsch
Wir kamen nach Kiew und fuhren von dort mit dem Zug zu flüchtigen Bekannten in ein Dorf. Als wir im Bahnhof saßen, zuckten nur wir und einige Flüchtlinge bei jedem Türschlagen zusammen und versuchten uns zu verbergen. Alle anderen blieben ruhig. Überall Verdunkelung, im Zug völlige Finsternis. Nach einer Woche im Keller fürchtete sich meine Tochter besonders vor der Dunkelheit, begann zu stottern, zog sich zurück und sprach wenig. Für uns alle ist Russisch unsere Muttersprache, doch nun sprach mein Kind diese Sprache nur stockend.

Im Dorf kamen wir wieder zu uns, fanden Freunde aus Kiew, mit denen wir im Bus zwei Tage bis zur polnischen Grenze gefahren waren. Nach 15 Tagen im Keller konnte auch meine Mutter über tschetschenische Kontrollpunkte Butscha verlassen. Aus irgendeinem Grund standen nicht Russen, sondern Tschetschenen in Butscha, sie sagt, sie habe 11 Leichen auf den Straßen gezählt, während sie durch ihr Städtchen fuhr.

Meine Frau und meine Tochter überquerten die Grenze, ich ruhte mich bei meinem Kumpel aus und kam ein wenig zu mir. Zurück kehrte ich über Kiew – unser Nachbar war auch weggefahren, aber die Katzen waren zu Hause geblieben und mussten gerettet werden. Es ist gefährlich, aber ich kann nicht anders. Wie es weitergeht – ich weiß es nicht…

Mein Freund aus Irpen war während des Beschusses getötet worden. Die Freundin meiner Mutter wurde verletzt, sie verblutete und wurde erst am Morgen gefunden. Es hieß, in Irpen seien schon Massengräber im Park Pobeda. Heute gibt es nicht einmal mehr Hass auf Russland. Leere und Ratlosigkeit sind geblieben…

Foto mit freundlicher Genehmigung von Pawel Selditsch
Zusammen mit den anderen Passagieren beobachtete ich aus dem Fernster des Abteils den Flug zweier Raketen
Statt eines Nachworts

Ich kehrte Mitte März nach Kiew zurück. Damals war die Stadt von der russischen Armee halb umzingelt, nur der Süden war die Straße des Lebens. Ich hatte Glück – unser Zug stand nur vier Stunden im Feld, bei Borjaka (demselben Bojberik, wo die Handlung von „Tewje, der Milchmann“ spielt). Zusammen mit den anderen Passagieren beobachtete ich aus dem Fenster des Abteils den Flug zweier Raketen. In Kiew übernachtete ich unter dem Dröhnen der Artillerie bei Bekannten, die in der Nähe der Trasse nach Irpen wohnten. Am Morgen ging ich zum letzten Kiewer Kontrollposten, zu dem die Verletzten aus Irpen gebracht wurden. Dort, auf dem Randstreifen, lagen die Leichen der Getöteten, die geborgen werden konnten.

Aufgrund des schrecklichen Durcheinanders gab es am Kontrollpunkt keine eindeutige Zuständigkeit. Da standen sowohl Soldaten als auch Polizei und Nationalgarde. Zwei Stunden lang bat ich sie, mich nach Irpen durchzulassen, in meiner Wohnung seien zwei Katzen und eine Schildkröte zurückgeblieben. Letzten Endes wurde ich in einen Militärwagen mitgenommen, der an die Frontlinie fuhr. Ganz „vorne“ war die Atmosphäre wesentlich einfacher – Artillerie und Maschinengewehre funktionierten und niemand kümmerte sich um einen Zivilisten, der freiwillig in die Hölle zurückkehrt.

Ich überquerte eine halbgesprengte Brücke und sah unterwegs viele zurückgelassene, beschossene und ausgebrannte Autos, in denen Menschen versucht hatten, aus Irpen herauszukommen. Ich begab mich in Richtung meines Hauses, wo gekämpft wurde. In diesem Augenblick war die Stadt zweigeteilt zwischen russischen Einheiten und den Positionen der Ukrainischen Streitkräfte – eine riesige graue Zone, um die in den Stadtvierteln gekämpft wurde.

Ich will mich nicht daran erinnern, wie ich diese drei Kilometer geschafft habe, sage nur so viel, dass ich in meine Brusttasche neben meinen Pass einen Zettel legte: „Wenn meine Leiche gefunden wird, bitte ich, meinem Vater zu benachrichtigen“, es folgte seine Telefonnummer.

In jedem Fall mussten unsere geliebten Haustiere gerettet werden. Unter dem Donnern der Artillerie und Maschinengewehrsalven gelangte ich zu unserem Haus. In unser neunstöckiges Haus waren einige Geschosse eingeschlagen, fünf Nachbarn waren getötet worden. Aber meine Wohnung war heil geblieben, außer dass alle Fenster zerborsten waren. Die verschreckten Katzen hatten sich unter der Badewanne versteckt und die Schildkröte war wegen der Kälte fast in den Winterschlaf gefallen. Ich steckte sie alle in den Rucksack und in Tüten und auf die gleiche Weise begann ich mich auf den Rückweg zu machen. Auf dem Weg traf ich auf einen ukrainischen Scharfschützen, der in einem Graben auf dem Rasen lag.

Foto mit freundlicher Genehmigung von Pawel Selditsch
An meinem Hauseingang sah ich drei Gräber und im benachbarten Hof war eine fünfköpfige Familie beerdigt. Sie waren zur gleichen Zeit bei einem Angriff ums Leben gekommen
In meiner Einfahrt sah ich drei Gräber

Am Ausgangskontrollpunkt nach Kiew untersuchten die Offiziere mein lebendes Gepäck und ließen mich ohne Probleme durch. Die ganze „Expedition“ hatte fünf Stunden in Anspruch genommen, aber ich brauchte noch fast eine Woche, um wieder zu mir zu kommen, ich horchte auf jede ferne Explosion. Im April zogen sich die Russen zurück und ein paar Tage nach Beendigung der Kriegshandlungen fuhr ich nach Irpen und Butscha. An meinem Hauseingang sah ich drei Gräber und im benachbarten Hof war eine fünfköpfige Familie beerdigt. Sie waren zur gleichen Zeit bei einem Angriff ums Leben gekommen.

In den ersten Wochen nach der Befreiung, als noch wenige zurückkehrten, holte ich Tierfutter aus Kiew und verteilte es an zurückgelassene Tiere, es waren damals sehr viele. Manchmal musste ich auf Balkone klettern oder den Katzen und Hunden, die in den Wohnungen eingesperrt waren, Futter durch ausgeschlagene Fenster einwerfen.

Im Mai gab es in Irpen Strom und Wasser und danach auch Gas. Sehr schnell wurde vieles repariert und zum Winter hin begann man zerstörte und verbrannte Häuser abzureißen. In der Wohnung meiner Mutter in Butscha wohnten russische Soldaten. Sie benahmen sich so schweinisch, dass sie ihre Zigaretten an den Tapeten ausdrückten, um nicht vom Bett aufzustehen. Nicht aufgegessenes Essen warfen sie auf den Boden, hinterließen Müll und Dreck, aber nahmen zwei neue Fernsehapparate mit. Meine Mutter lebt jetzt in Deutschland, meine Frau und meine Tochter in Polen.

Im Sommer fuhr ich in das Örtchen Naroditschi an der Grenze zu Belarus zwecks Erhaltung einzigartiger Holzmazewot (eine Mazewa ist ein jüdischer Grabstein – A.d.Ü.). Es gelang auch, die Erlaubnis zur Errichtung eines Denkmals am Ort des früheren jüdischen Friedhofs in Obuchow, Oblast Kiew, zu erhalten. Vor dem Krieg war mit Unterstützung der Vereinigten jüdischen Gemeinde der Ukraine geplant, Denkmale auf dem Gelände der ehemaligen jüdischen Agrarkolonien in der Tschernobyl-Zone und auf den Friedhöfen an verlassenen Orten zu errichten. Aber wenn früher dort nur eine hohe radioaktive Belastung war, so blieben nach Rückzug der russischen Armee Minen zurück. Deshalb verschoben wir diesen Plan auf Friedenszeiten.

Die Zeugenaussage wurde am 13. März 2022 aufgezeichnet

Übersetzung: Dr. Dorothea Kollenbach