Cookies managing
We use cookies to provide the best site experience.
Cookies managing
Cookie Settings
Cookies necessary for the correct operation of the site are always enabled.
Other cookies are configurable.
Essential cookies
Always On. These cookies are essential so that you can use the website and use its functions. They cannot be turned off. They're set in response to requests made by you, such as setting your privacy preferences, logging in or filling in forms.
Analytics cookies
Disabled
These cookies collect information to help us understand how our Websites are being used or how effective our marketing campaigns are, or to help us customise our Websites for you. See a list of the analytics cookies we use here.
Advertising cookies
Disabled
These cookies provide advertising companies with information about your online activity to help them deliver more relevant online advertising to you or to limit how many times you see an ad. This information may be shared with other advertising companies. See a list of the advertising cookies we use here.
Kyjiw
Putin begreif nicht mit wem er es zu tun hat
Olga Masurenko, Erzieherin in einem jüdischen Kindergarten
Foto mit freundlicher Genehmigung von Olga Masurenko
Diese Geschichte begann für mich im Dezember 2021, als mein Ex-Mann mich aus Israel anrief – wir haben eine Tochter, die 22 Jahre alt ist, und einen kleinen Enkel. „Bringe schnell den Kleinen, in zwei Wochen beginnt bei euch der Krieg“, sagte er damals. „Wovon sprichst du!“ regte ich mich auf. Zwei Wochen vergingen, ein Krieg begann nicht und ich sagte ihm, er habe umsonst Panik gemacht. Zum 16. Februar fuhren einige Israelis fort, aber ich hoffte, dass es gut gehen würde.

Als Vierjähriger floh mein Vater genauso aus Sewastopol unter den faschistischen Bomben


Ich stehe morgens um fünf Uhr auf – ich muss meiner Mutter die Pampers wechseln, den Hund ausführen und um Viertel vor sieben den Autobus nach Anatewka nehmen. Dort befindet sich unser Kindergarten.

Am 24. stand ich wie gewohnt auf und hörte irgendeinеn Knall. Hat nichts zu bedeuten, denke ich. Aber um halb sechs dann ohrenbetäubender Krach – mir wurde klar, dass es Explosionen waren. Ich sehe, wie sich die Türen der Hauseingänge öffnen, aus verschiedenen Häusern kommen Leute mit Taschen und Koffern heraus. Sie setzen sich schnell in ihre Autos und fahren ab. Nachbarn eilen vorbei. Ich schreibe einem Freund und er antwortet: „Olga, es hat angefangen…“ (er schluchzt) Ein Fahrer rief an und riet, so schnell wie möglich aus Kyjiw wegzufahren.

Ich ging in den Flur, dort sprechen die Nachbarn über einen Notfallkoffer. Ich packte eine große Tasche – die Medikamente für meine Mutter, die Geräte zur Messung des Blutzuckers, des Blutdrucks usw.

Ich lebe mit meinen Eltern zusammen – mein Vater ist 85 und meine Mutter 86 Jahre alt. Sie kann sich praktisch nicht fortbewegen. Wenn ich zur Arbeit gehe, kommt eine Sozialarbeiterin zu uns nach Hause. Meine Mutter leidet an Diabetes und Morbus Alzheimer. Sie hat zudem einen Herzschrittmacher und bedarf der ständigen Pflege.

So lebten wir in den ersten Tagen des Krieges im Hausflur.

Foto mit freundlicher Genehmigung von Olga Masurenko
Am ersten Tag hörten wir die Sirene, konnten aber nicht in den Keller gehen – meine Mutter hätte es einfach nicht geschafft. Ich verklebte die Fenster mit Resten von Klebeband, die Nachbarn gaben mir ein Klappbett. Wir zogen es in den Flur, ich bedeckte es mit einem Überzug und legte meine Mutter darauf, setzte meinen Vater hin und nahm die Hunde mit – so saßen wir die ganze Nacht. Mein Vater erzählte dauernd, dass er im Alter von 4 Jahren so aus Sewastopol unter den Bomben der Faschisten geflohen sei. „Jetzt“, sagt er, „bin ich 85 und wir werden wieder bombardiert.“

In den ersten Tagen waren wir nur auf die Versorgung meiner Eltern mit Nahrungsmitteln und Medikamenten bedacht. Viele Menschen standen Schlange. Und wo bekomme ich Insulin? Am 25. Februar mussten wir die Herzklinik aufsuchen, wo meine Mutter einen Herzschrittmacher bekommen sollte. Ich rief an, sie sagten den Termin ab. Ich bekam Panik – sie hatte eine völlige Blockade der Reizleitung am Herzen. Und wenn – was Gott verhüten möge – etwas mit diesem Schrittmacher passiert.

Andererseits schien es, als ob in ein paar Tagen alles zu Ende sein würde. Wie ein Traum, du schließt deine Augen, öffnest sie dann – und alles ist gut. Sehr schrecklich war es am dritten oder vierten Tag – auf unsere Metro-Station „Völkerfreundschaft“ fielen Bruchstücke eines Raketengeschosses. Es dröhnte laut, die Fensterscheiben zitterten… Und du weißt nicht, was weiter geschieht. Mich hat das Leben auf so etwas nicht vorbereitet. Ich zog meine Mutter sofort in den Flur und legte sie dort hin, während mein Vater im Zimmer schlief und ich das Fenster nur mit einer Matratze verstopfte.

Ich erinnere mich, wie wir den Hund unter dem Haus begruben – die Sirene kreischt, irgendwo knallt es

Ich verfolgte alle Internet-Chats und Messengerdienste – ich wollte so gerne eine Bestätigung erhalten, dass alles bald vorbei sei. Es konnte doch nicht sein, dass meinen Eltern, die als Kinder vor den deutschen Faschisten geflohen waren, 80 Jahre später die Flucht vor den Bomben der Raschisten (russischen Faschisten) bevorstand. Vor dem „großen Bruder“, der in seinen Fieberfantasien zu dem Schluss gekommen war, uns vor irgendetwas retten zu müssen.

Mir war klar, dass meine Eltern evakuiert werden mussten, aber auch, dass meine Mutter einen Umzug im Sitzen nicht überstehen würde. Deshalb dachte ich, wie es kommt, so kommt es. Aber der Adar begann – der Monat der Wunder, und ich bekam von allen Seiten Telefonnummern für die Evakuierung.

Mein Schwiegersohn brachte den toten Hund mit und ich weiß noch, wie wir ihn am Haus beerdigten – eine Sirene heult, irgendwo knallt es direkt über unseren Ohren, ich, mein Schwiegersohn und der Hausmeister graben eine Grube
Ein paar Tage später schreibt mir eine Freundin von der Synagoge in Brody: „Olga, ruf schnell diese Nummer аn; sie machen auch Liegendtransporte.“ Wir haben uns auf das und das geeinigt, weißt du, was bei uns Juden üblich ist. Aber diese Leute willigten nur ein, meine Mutter mitzunehmen, und mein Vater musste mit dem Hund gesondert fahren.

Ich hatte zwei Hunde – ungefähr 11 Jahre alt. Der eine hatte seine Pfote aufgebissen, am 4. März brachte mein Schwiegersohn ihn zum Tierarzt. Der Arzt sagt: „ Amputation der gesamten Pfote oder Einschläferung.“ Ich weiß, was eine Amputation unter solchen Umständen bedeutet –Antibiotika gibt es nicht, völlige Ungewissheit… Und überhaupt… Mein Schwiegersohn brachte den toten Hund mit und ich weiß noch, wie wir ihn am Haus beerdigten – eine Sirene heult, irgendwo knallt es direkt über unseren Ohren, ich, mein Schwiegersohn und der Hausmeister graben eine Grube. Damals stellte ich mir einen Augenblick lang vor, dass nicht der Hund, sondern meine Eltern unsere Hilfe brauchten. Und mir wurde sehr schrecklich zumute.

Zu dieser Zeit flog meine Tochter mit der Enkelin schon nach Israel. Und da rief mich nach dem Sabbat eine Freundin an: „Der Rabbi Blaich erkundigt sich nach deiner Familie – er versprach, die Sache zu regeln.“ Und Sonntag, den 13. März teilte man mir unter einer israelischen Nummer mit, es gäbe einen Flug für Liegende, der uns alle mitnehmen würde.

Kyjiw nach dem Beschuss
Foto mit freundlicher Genehmigung des staatlichen Notdienstes der Ukraine
Das sind die verstellbaren Sitze im Bus. Dort liegen meine Mutter und ein Mädchen mit Zerebralparese.

Foto mit freundlicher Genehmigung von Olga Masurenko
Montagmorgen kam ein Wagen und brachte uns zur Synagoge auf dem Tschekawizkastrasse. Sie nahmen uns bis Odessa mit. Dort übernachteten wir, um dann zur moldawischen Grenze zu fahren. Am Kontrollpassierpunkt Starokasatsche gab es Probleme: „Euch lassen wir ohne Problem durch, aber die Fahrer können wir nicht passieren lassen. Verabredet euch, dass von der moldawischen Seite der Bus eingeholt wird, während ihr zu Fuß über die Grenze geht. Die Mehrheit der Passagiere konnte dies tun, aber meine Mutter und das 26jährige Mädchen mit Infantiler Zerebralparese nicht.
Schließlich fuhren wir zu einem anderen Grenzübergang – dem Dorf Palanka. Dort warteten wir fast bis Mitternacht und als die Leute schon hysterisch wurden, kamen drei Busse und moldawische Grenzbeamte halfen die Liegenden hinüberzutragen. So fuhren wir in einem Frachtbus auf Decken bis Kischinau.

Moldauische Solidarität


In Moldawien brachte man uns in einem kleinen Hotel in der Nähe der Synagoge unter. Wir sind ihren Freiwilligen unendlich dankbar. Am nächsten Tag kamen Ärzte, untersuchten meine Mutter, fragten uns nach den Umständen der letzten Tage und ob wir medikamentöse Hilfe brauchten – keine Probleme, wenn ein Krankenhausaufenthalt notwendig sei – würden sie sie einweisen.

Ich erinnere mich noch. Wir bekamen hauptsächlich Makkaroni und meine Mutter hat Diabetes, sie darf sie nicht essen. Und man konnte nirgends kochen. Ich ging in den Supermarkt – Buchweizenflocken kaufen, die man nur mit heißem Wasser übergießen muss. Übrigens habe ich mich verlaufen und da kommt eine alte Frau auf mich zu. Ich erklärte ihr, dass ich nicht von hier sei, sondern aus Kyjiw und da fängt sie an: „Verflucht sei dieser Putin, verflucht sei dieser Krieg!“ Sie erzählt, dass ihre Schwester aus Tjumen (Westsibirien) ihr einrede, dass sie ausschließlich an militärischen Objekten „arbeiten“ und die Bürger nicht litten. „Komm du hierher, schau dir diese Kinder und Frauen an – sie sind nackt und barfüßig gekommen“, versuchte die „Moldawierin“ sie zu überzeugen. Dann fährt sie fort: „All das wird ein Ende haben, und ich weiß, dass es ein Ende haben wird und die Ukraine wird siegen – ich schicke meine Rente zum Wiederaufbau.“ Und dann holt sie einfach aus ihrer Geldbörse Geld – „Kauf“, so sagt sie, „ deiner Mutter, was sie braucht.“ Ich lehne ab, Gott sei Dank habe ich eine ukrainische Karte. „Nein“, sagt sie, „nimm, denn niemand weiß – da lebe ich im Zentrum von Kischinau und plötzlich muss ich mit nur einer Tasche von hier flüchten. Wenn ihr sie nicht aufhaltet, kann uns dasselbe passieren.“

Das stimmt, sie (Russland) verfügen schon über Transnistrien. Einerseits fühlst du dich als Bettler, andererseits wird dir klar, dass ein Mensch aus ganzer Seele bereit ist, mit dir zu teilen. Gott schickt dir solche Menschen. Es gibt viele Wunder, die man Zufall nennen kann – und trotzdem…

Auch um unser Hündchen haben sie sich gekümmert Sonja Sotnik half bei der Beschaffung eines Passes und den Impfungen, sie kontaktierte sofort einen Tierarzt, rief ein Taxi und bezahlte es… Der Arzt untersuchte ihn, machte ihm einen Chip, aber nach einigen Tagen begann der elfjährige Rüde zu husten – er war herzkrank. Ich rief Sonja wieder an – sie machte mir einen Termin bei einem Veterinär-Kardiologen, sprach persönlich mit dem Klinikchef, der ihr den richtigen Arzt an ihrem arbeitsfreien Tag besorgte. Und diese Ärztin kam extra, um meinen Hund zu untersuchen.

Putin begreift nicht, mit wem es zu tun hat. Selbst wenn er das gesamte Territorium einnehmen würde, käme man ihm überall in die Quere. Und zwar alle, sowohl die Russen, als auch die Ukrainer und die Juden. Alle, die in diesem Land leben

Menschen, die ihre Heimat verteidigen, sind nicht zu besiegen


In Israel verschaffte uns die Organisation „Ichud Azala“ am 27. März die Staatsbürgerschaft. Sie holten uns direkt vom Hotel ab, brachten uns zum Flughafen, jemand besorgte Krankenstühle und das Gepäck wurde gebracht. Ein Mann namens Uri begleitete uns persönlich – von der Pass-Kontrolle an und weiter. Zum Verladen in das Flugzeug fuhren sie eine Art Spezialauto und hoben vier Rollstühle hoch. Mit uns flogen unsere Betreuer – Aron und Akiwa. „Mädchen, habt keine Angst, wir fliegen mit euch, alles wird gut, wir sorgen für alles.“ Das war eine wirkliche Unterstützung.

In Israel hatten sie schon Wohnungen gemietet, wir füllen die Papiere aus.

Putin begreift nicht, mit wem er es zu tun hat. Selbst wenn er das gesamte Territorium einnehmen würde, käme man ihm überall in die Quere. Und zwar alle, sowohl die Russen, als auch die Ukrainer und die Juden. Alle, die in diesem Land leben. Dessen bin ich mir absolut sicher. Vielleicht würde es nicht so schnell vor sich gehen, wie wir uns das wünschten. Aber die Motivation derjenigen, die ihr eigenes Haus schützen, unterscheidet sich von denen, die gekommen sind, um es ihnen wegzunehmen.

Die Zeugenaussage wurde am 30. März 2022 aufgezeichnet

Übersetzung: Dr. Dorothea Kollenbach