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Mariupol
„Als wir die ukrainischen Aufnäher mit den Dienstgradbezeichnungen an den Uniformen der Soldaten erblickten, weinten wir wie Kinder“
Marina Pilezkaja, Kesselwärterin im Stahlwerk „Asowstahl“
Marina Pilezkaja mit ihrem Ehemann

Foto mit freundlicher Genehmigung von Marina Pilezkaja
Wir hatten gültige Visa für einen dauerhaften Aufenthalt in Israel und sogar Tickets für den 15. März. Aber es klappte nicht… Ich begriff, dass der Krieg unausweichlich war, doch trotzdem hoffte ich auf das Bestmögliche.

Am 24. wurden wir um halb fünf morgens von einer Explosion wach. Mein Mann fragt: „Krieg?“ „Ja“, antworte ich, „Krieg.“

Ich ging trotzdem zur Arbeit, aber nach einigen Stunden begann ein starker Beschuss – da wurde die Förderung eingestellt (das ist ein Notfall – die Öfen sind beschädigt und können nicht wiederhergestellt werden) und mein Mann kam mich an der Pforte abholen.
Zerstörtes ziviles Gebäude in Mariupol

Foto mit freundlicher Genehmigung von Marina Pilezkaja
„Oma ich bin hungrig, aber man muss lächeln“

Bis zum 2. März saßen wir zu Hause – mein Schwiegersohn, meine Tochter und mein Enkel übernachteten im Badezimmer und mein Mann und ich in unserem Zimmer. Aber als die Angriffe ganz in der Nähe stattfanden, suchten wir den Keller auf. Wir wollten zum „Haus der Kultur“ doch es begann ein äußerst starker Beschuss – wir kamen nicht ans Ziel. Unter dem Geheul der Raketen rannten wir in eine Art Keller, wo es sehr kalt und feucht war. Die Menschen saßen auf Bänken im engen Flur – man konnte sich nicht einmal hinlegen. Dann flogen Granaten auch dorthin. Und zudem waren meine Füße nach zehn Minuten so eiskalt, dass mein Mann den „Tawrija“ aus der Garage holte und wir in den Keller zu meiner Tochter fuhren. Sie ging in die erste Klasse.

Dort verbrachten wir fast drei Wochen – bis zum 21. März. Medikamente holte ich aus unserem Haus – das, was wir nach Israel mitnehmen wollten. Übrigens wurde im Keller niemand krank, der Körper konzentrierte sich aufs Überleben. Der Beschuss nahm kein Ende, ich verstehe nicht, wie wir bei diesem Krachen einschlafen konnten. Wir schliefen auf dem Zementboden, jemand brachte einen Teppich, wir hatten Decken dabei – die nahmen wir auch nach Israel mit. Es herrschte große Kälte – am 10. März setzte Frost ein. Wegen der Angriffe gingen die Kinder nicht nach draußen, mein Enkel, er ist sechs Jahre alt, und sein fünfjähriger Freund lasen bei Kerzenlicht. Als für etwa zehn Minuten Stille einkehrte, versuchten sie die Treppe hochzusteigen, doch sie wurden von dort verjagt. Die Kinder sahen kein Tageslicht, aber sie wurden schnell erwachsen. „Oma ich bin hungrig, aber man muss lächeln“, sagte mein Enkel mir einmal.

Als wir Wasser holen gingen, begann der Beschuss – gerade in diesem Augenblick und gerade bei einer großen Menschenansammlung. Praktisch gab es schon kein Wasser mehr. In ein derartiges Mörserfeuer geriet mein Mann – 30 Menschen rannten in den Kindergarten, dort gibt es einen Hydranten und hier begann das Grauen. Sie konnten sich nirgends verbergen, es krachte irgendwo ganz in der Nähe. Das war der größte Schrecken meines Lebens. Sie saßen im Flur, zusammengekauert, aber er schoss alle 20 Sekunden – Kurzschuss, Weitschuss, das Mörserfeuer beruhigte sich nicht, bevor es den Haupteingang des Kindergartens traf. Schrecklicher Staub wirbelte auf, sie trampelten über ein Mädchen, mein Mann hob es auf und setzte es neben sich. Endlich sahen wir unsere Männer, sie torkelten zurück in den Keller mit schrecklichen Gesichtern und verstörten Augen…

Marinas Sohn, der am 13. März 2022 starb

Foto mit freundlicher Genehmigung von Marina Pilezkaja
Am Leichenschauhaus stapelten sich am Bordstein die Leichen friedlicher Bürger – einer als Paket, ein anderer in einer Decke

Mein Mann war noch nicht wieder zu Atem gekommen, da heißt es, dass unsere junge Nachbarin eine Verletzung am Bein und am Rücken hat. Die junge Frau ist 21 Jahre alt und hat ein einjähriges Kind. Sie war ins Nachbarhaus gegangen, um Ohrstöpsel für ihren Sohn zu holen, und da kam der Anflug. Es war niemand da um zu helfen – sie legten sie einfach auf die Stufen. Also, in das Auto „Tawrija“ mit ihr und ins Krankenhaus. Das Bein wurde genäht und dann fuhr Veras Mann sie drei Tage unter Beschuss zum Verbandswechsel. Bis zum 21. März gab es dort weder Medikamente, noch Wasser, Licht und Heizung. Das Gebäude wurde weiter beschossen. Am Leichenschauhaus stapelten sich am Bordstein die Leichen friedlicher Bürger – einer als Paket, ein anderer in einer Decke, mein Mann hat es selbst gesehen. Die Russen beschossen die Häuser, jemand verbrannte, die Leichen lagen oft auf den Straßen herum, es war niemand da, der sie begrub, aber solange es kalt war – lagen die Körper da, sie wurden nicht einmal zugedeckt.

Am 13. März verschwand mein Sohn – er war in einem anderen Keller. Sie gingen zu dritt Wasser holen und kehrten nicht zurück. Ihr zerschossenes Auto wurde gesehen, aber die Leichen fand man nicht. Es war schrecklich…

Um zu überleben, brachen die Leute in die Geschäfte ein und nahmen sich Lebensmittel mit. Mein Mann lief in der Zentrale umher und brachte Sardinen-Presskuchen mit, die wir in unserem Leben noch nie gekauft hatten, denn wir leben doch am Meer. Aber wir brieten ihn auf dem Feuer, man muss doch irgendetwas essen. Wir hatten aus dem Haus einige Vorräte mitgenommen, wir kochten Haferflocken. Das Wasser hatte einen scheußlichen Bodensatz, Sand, man konnte es nicht einmal abkochen. Ungefähr bis zum 15. März hielten wir es irgendwie aus, aber danach konnten wir wegen des schrecklichen Beschusses nicht einmal mehr kurz herauslaufen, um den Teekessel aufs Feuer zu setzen. Die Häuser stürzten einfach ein und brannten. Bomben fielen alle 10 bis 20 Minuten und wir wussten, dass der Keller zu unserem Massengrab wird.

Der Mann meiner Schwester erlitt Verletzungen und Quetschungen. Ihr Haus brannte und als sie in den Schutzraum hinabstiegen, traf ihn ein Schuss in den Bauch. Niemand konnte ihm helfen, es gab keine Medikamente, auch kein Wasser – nur einen Verband. Einer meiner Kollegen wurde bei einem Beschuss getötet – seine Frau teilte mir das telefonisch mit.

Bemerkenswert ist, dass 80 Prozent der Stadtbevölkerung eine absolut prorussische Gesinnung hatte und diese Leute hat Putin vergrault. Aber dieser Meinungsumschwung fand nicht bei allen statt, einige glauben, dass wir uns selbst umbringen. Obwohl einige es verstanden haben. Viele, die nach Russland gebracht wurden, sagen es sei schrecklich, wie sie dort leben, wie im letzten Jahrhundert.

Tanya Moroz, 6 Jahre alt. Eine russische Granate flog in ihr Haus in Mariupol und traf den Schutzraum. Die Mutter versuchte, Tanya mit ihrem Körper zu schützen, sie starb auf der Stelle. Das Kind wurde ins Krankenhaus gebracht, aber russische Flugzeuge bombardierten die Intensivstation des Krankenhauses. Tanya starb.
Grundwehrdienstleistenden waren im Allgemeinen höflich. „Guten Morgen“ und in dieser Art. Wir haben euer Haus zerstört, aber „guten Morgen“
Wir haben unter dem Autositz eine ukrainische Fahne mitgenommen

Nun also, bis zum 21. März beschlossen alle, die ein Auto hatten, die Stadt zu verlassen. Wenn ich daran denke, beginne ich zu zittern. Als sie eine kleine Kolonne gebildet hatten, begann ein Beschuss – offensichtlich hatte sie jemand beobachtet. Aber wir fuhren los – 5 bis 6 Autos, in einem meine Tochter mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Unterwegs verloren wir uns, waren in unserem „Tawrija“ allein auf der Straße, das ist so gefährlich wie ein Dorn im Auge. Auf der Straße sind nicht geräumte Minen, Kabelbruch unter den Rädern. Wir beginnen auf den Straßenbahngleisen zu fahren und kommen bis zur Postbrücke, die zwei Stadtteile verbindet, erblicken einen großen Bombentrichter und uns ist klar, dass wir nicht weiterfahren können.

Wir mussten umkehren, die andere Brücke ist auch zerstört, es blieb noch eine ganz kleine Brücke, also eilen wir dorthin. Für einen Augenblick gibt es eine Telefonverbindung – meine Tochter ist durchgekommen. Ich sagte, dass wir wegfuhren und wieder Ende der Verbindung.

Und dann kamen russische Kontrollpunkte, fünfzehn nacheinander, buchstäblich alle einige 100 Meter. Sie benahmen sich unterschiedlich. Die Grundwehrdienstleistenden waren im Allgemeinen höflich. „Guten Morgen“ und in dieser Art. Wir haben euer Haus zerstört, aber „guten Morgen“. Wir hatten zwei Wohnungen – die eine, die wir vor kurzem gekauft hatten, war fast völlig ausgebrannt. Und als sie „guten Morgen“ sagen, weiß ich, dass in meiner Wohnung nichts mehr ist, sie haben schon alles rausgetragen.

An den Kontrollpunkten zogen sie die Männer bis auf die Unterhosen aus und durchsuchten das Auto. Hilfreich war der Passierschein von Asow-Stahl – es war klar, mein Mann war einfacher Arbeiter und kein Soldat. Aber am letzten Kontrollpunkt musste auch ich mich ausziehen – dort standen Leute der Volksrepublik Donezk, schrecklich böse Männer, ein Albtraum. Mit so einer Wut sagten sie: „Nehmen sie die Fahne herunter (an unserem „Tawrija“ war die ukrainische Fahne befestigt) – ein solches Land gibt es nicht. Und warum fahren Sie überhaupt nach Saporoschje, fahren Sie in die andere Richtung!“ Natürlich stritten wir nicht mit ihnen, mit bewaffneten Leuten streitet man nicht.

Aber eine große Fahne – sie war einen Meter lang – hatten wir zusammengerollt und unter dem Sitz versteckt, wir nahmen sie trotzdem mit. Sie bedeutet uns sehr viel. Wenn sie sie gefunden hätten, wäre es nicht gut gewesen, aber wir riskierten es.

Wissen Sie, was das Schrecklichste ist? Wenn man weiß, dass man jeden Augenblick sterben kann, und auch dazu bereit ist. Ich wachte morgens auf, sah meinen Mann neben mir und war dankbar für noch einen Tag, denn jeder konnte der letzte sein
Dann begann unser Auto zu qualmen. Es war zwar ganzgeblieben, aber es fehlten die Front- und eine Seitenscheibe – mein Mann hatte sie irgendwie notdürftig verklebt. Wir machten in einem Dorf Halt und plötzlich sah ich einen fehlgeschlagenen Anruf auf Viber. Es zeigte sich, dass unser Rabbi Mendl Kohen angerufen hatte. „Marina, wo seid ihr?!“ Ich erklärte es ihm und er fragte, welche Art Hilfe nötig sei. „Schickt mir die Nummer der Karte, ich werde euch Geld schicken. Wenn ihr in Saporoschje seid, teilt es uns mit, sie werden euch unterbringen.“

Früher gab es die „Judenfrage“, aber jetzt ist es bei Putin die „Ukrainefrage“

Nach Saporoschje mussten wir manchmal fast durch Minenfelder fahren. Als wir endlich zu unserem ersten Kontrollpunkt fuhren und ich die ukrainischen Rangabzeichen auf den Uniformen der Soldaten sah, sagte ich zu meinem Mann: „Unsere!“ Und wir beide weinten wie Kinder. Als Antwort winkten sie uns zu und versicherten: „Alles wird gut, Sie sind in der Ukraine.“ Damals sagte ich zu meinem Mann, dass ich ein solches Glücksgefühl nicht einmal an unserem Hochzeitstag verspürt habe.

Meine Tochter fuhr mit ihrem Mann auf einer anderen Route, beim dritten Versuch kamen sie raus, sie wurden beschossen und mussten sich unter den Rädern verstecken…Wir trafen uns schon in Saparosche und wurden im Hotel „Intourist“ untergebracht. Einige Tage später brachten sie uns nach Dragobrat und von dort nach Israel.

Unsere Wohnung war zerstört und geplündert, nichts war geblieben. Bis da wohnten dort Tschetschenen, jetzt irgendein Soldat. In der anderen Wohnung leben vier Personen, auf dem Hof steht ein Panzer. Mein Schwiegersohn blieb in der Ukraine. Als er kam, richteten sie ein Maschinengewehr auf ihn und sagten: „Wenn Sie nicht nachweisen können, dass Sie früher hier gewohnt haben, erschießen wir Sie.“ Aber es regelte sich alles.

Als der Rabbi Mendl vorschlug, durch die Krim zu fahren, habe ich sofort gesagt, dass wir nicht durch die Filtration gehen. In unseren Facebook-Profilen gibt es proukrainische Posts – wir könnten in den Keller kommen oder wir würden einfach erschossen. Eine Frau aus unserer Gemeinde hatte erzählt, wie sie die Filtration durchlaufen hatte – das ist entsetzlich.

Wissen Sie, was das Schrecklichste ist? Wenn man weiß, dass man jeden Augenblick sterben kann, und auch dazu bereit ist. Ich wachte morgens auf, sah meinen Mann neben mir und war dankbar für noch einen Tag, denn jeder konnte der letzte sein.

Die Menschen nehmen dies alles verschieden auf. Eine Kollegin, mit der ich viele Jahre zusammen gearbeitet hatte, lebt schon lange in Belarus. Das letzte Mal telefonierten wir kurz miteinander vor dem Krieg. Sie begann zu erzählen, dass Charkow eine russische Stadt sei. Ich fing keinen Streit mit ihr an, riet ihr nur, den Fernseher auszuschalten. Kein einziges Mal hat sie Interesse für diese Zeit gezeigt, dafür, was mit mir, meinem Mann und meiner Familie war, ob wir durchkamen. Und dabei waren wir Jahrzehnte befreundet…

Ich schäme mich für diese Leute. Es ist doch wohl zu verstehen, dass solange keine russischen Soldaten da waren, niemand schoss. Aber sie befreiten uns von allem – vom Leben, von der Arbeit und vom Haus. Wer hat uns daran gehindert, Russisch zu sprechen? Ja, es wurde begonnen, in der Schule Ukrainisch zu unterrichten, wir leben doch in der Ukraine. Früher gab es die „Judenfrage“ Aber jetzt ist es bei Putin die „Ukrainefrage“ – er will die Ukraine zerstören.

Doch nun sind wir hier. Es ist erstaunlich, wie viele gute Menschgen es in Israel gibt – wie sie Sachen herbeischafften: Geschirr und einen Kühlschrank und eine Waschmaschine und auch mit Geld halfen sie uns – mir kamen die Tränen.

Wir können nirgendwohin zurückkehren. Mein Mann ging in eine Kunststofffabrik und ich wurde “Metapelet“ (Haushelfer), ich bediene zwei Personen. Ich telefoniere oft mit Mariupol – überzeuge die ehemaligen Kollegen, die tote Stadt zu verlassen, nicht über Leichen zu gehen. Sie sagen den Leuten, ihr seid jetzt Freiwillige. Sie machen Lötarbeiten, harken Schutt, begraben Leichen.

Ein kleiner Junge schrieb neulich in Facebook: die Stadt ist zerstört, aber das Meer ist geblieben. Und das ist alles, was von Mariupol geblieben ist – das Meer. Wir waren vor kurzem am Meer in Aschkelon – liegen am Strand und ich erinnere mich, wie unser Meer roch. Dieses Meer riecht nach nichts und ich schließe die Augen und erinnere mich an den Geruch unseres Meeres.

Die Zeugenaussage wurde am 13. Juni 2022 aufgezeichnet

Übersetzung: Dr. Dorothea Kollenbach