Wissen Sie, was das Schrecklichste ist? Wenn man weiß, dass man jeden Augenblick sterben kann, und auch dazu bereit ist. Ich wachte morgens auf, sah meinen Mann neben mir und war dankbar für noch einen Tag, denn jeder konnte der letzte sein
Dann begann unser Auto zu qualmen. Es war zwar ganz geblieben, aber es fehlten die Front- und eine Seitenscheibe – mein Mann hatte sie irgendwie notdürftig verklebt. Wir machten in einem Dorf Halt und plötzlich sah ich einen verpassten Anruf auf Viber. Es war unser Rabbi Mendl Kohen, der angerufen hatte: „Marina, wo seid ihr?!“ Ich erklärte es ihm und er fragte, welche Art Hilfe nötig sei. „Schickt mir die Nummer eurer Karte, ich werde euch Geld überweisen. Wenn ihr in Saporoschje seid, gebt Bescheid, man wird euch unterbringen.“
Früher gab es die „Judenfrage“. Jetzt ist es bei Putin die „Ukrainefrage“
Nach Saporoschje mussten wir manchmal quasi durch Minenfelder fahren. Als wir endlich den ersten „unseren“ Kontrollpunkt erreichten und ich die ukrainischen Rangabzeichen auf den Uniformen der Soldaten sah, sagte ich zu meinem Mann: „Unsere!“ Und wir beide weinten wie Kinder. Als Antwort winkten sie uns zu und versicherten: „Alles wird gut, Sie sind in der Ukraine.“ Damals sagte ich zu meinem Mann, dass ich ein solches Glücksgefühl nicht einmal an unserem Hochzeitstag verspürt habe.
Meine Tochter fuhr mit ihrem Mann auf einer anderen Route, erst beim dritten Versuch kamen sie raus, sie wurden beschossen und mussten sich unter den Rädern verstecken…Wir trafen uns schon in Saparoschje und wurden im Hotel „Intourist“ untergebracht. Einige Tage später brachten sie uns nach Drahobrat und von dort nach Israel.
Unsere Wohnung war zerstört und geplündert, nichts war geblieben. Erst wohnten dort Tschetschenen, jetzt irgendein Soldat. In der anderen Wohnung leben vier Personen, auf dem Hof steht ein Panzer. Mein Schwiegersohn blieb in der Ukraine. Als er zu seinem Haus kam, richteten sie ein Maschinengewehr auf ihn und sagten: „Du kannst nicht nachweisen, dass du hier gewohnt hast, wir erschießen dich.“ Aber es ging nochmal gut.
Als Rav Mendl vorschlug, durch die Krim zu fahren, habe ich sofort gesagt, dass wir nicht durch die Filtration kommen werden. In unseren Facebook-Profilen gibt es proukrainische Posts – wir könnten in den Keller kommen oder einfach erschossen werden. Eine Frau aus unserer Gemeinde hatte erzählt, wie sie die Filtration durchlaufen hatte – das ist entsetzlich.
Wissen Sie, was das Schrecklichste ist? Wenn man weiß, dass man jeden Augenblick sterben kann, und auch dazu bereit ist. Ich wachte morgens auf, sah meinen Mann neben mir und war dankbar für noch einen Tag, denn jeder konnte der letzte sein.
Die Menschen nehmen dies alles unterschiedlich auf. Eine Kollegin, mit der ich viele Jahre befreundet war, lebt schon lange in Belarus. Das letzte Mal telefonierten wir kurz vor dem Krieg. Sie begann zu erzählen, dass Charkiw eine russische Stadt sei. Ich fing keinen Streit mit ihr an, riet ihr nur, den Fernseher auszuschalten. Kein einziges Mal hat sie sich in dieser Zeit dafür interessiert, was mit mir, meinem Mann und meiner Familie war, ob wir überlebt haben. Und dabei waren wir Jahrzehnte befreundet…
Ich bin sehr enttäuscht von diesen Leuten. Ist es so schwer zu verstehen, dass solange keine russischen Soldaten da waren, niemand schoss? Aber sie befreiten uns von allem – vom Leben, von der Arbeit und vom Haus. Wer hat uns daran gehindert, Russisch zu sprechen? Ja, es wurde begonnen, in der Schule Ukrainisch zu unterrichten, wir leben doch in der Ukraine. Früher gab es die „Judenfrage“. Jetzt ist es bei Putin die „Ukrainefrage“ – er will die Ukraine auslöschen.
Und nun sind wir hier. Es ist erstaunlich, wie warmherzig die Menschen es in Israel sind – sie brachten uns alles: Geschirr und einen Kühlschrank und eine Waschmaschine und auch mit Geld halfen sie uns – mir kamen die Tränen.
Wir können nirgendwohin zurückkehren. Mein Mann fand Arbeit in einer Kunststofffabrik und ich wurde “Metapelet“ (Haushelfer), ich betreue zwei Personen. Ich telefoniere oft mit Mariupol – versuche die ehemaligen Kollegen zu überreden, die tote Stadt zu verlassen, nicht zwischen Leichen zu laufen. Den Leuten wird gesagt, ihr seid jetzt Freiwillige. Sie arbeiten für etwas zu essen, räumen Schutt weg, begraben Leichen.
Ein kleiner Junge schrieb neulich auf Facebook: „Die Stadt ist zerstört, aber das Meer ist geblieben.“ Und das ist alles, was von Mariupol geblieben ist – das Meer. Wir waren vor kurzem am Meer in Aschkelon – liegen am Strand und ich erinnere mich, wie unser Meer roch. Dieses Meer riecht nach nichts und ich schließe die Augen und erinnere mich an den Geruch unseres Meeres.
Statt eines Nachworts. Oktober 2023
Wir haben Israel sehr liebgewonnen. Ich erinnere mich, wie mein Mann und ich einmal auf dem Balkon saßen, und er sagte: mein Gott, was für ein Glück, dass wir in dieses wunderbare Land gekommen sind. Ruslan hat den Ulpan absolviert und nimmt weiter Unterricht bei einem Privatlehrer, macht große Fortschritte in Hebräisch. Er wurde mehrmals befördert, vor kurzem zum Brigadier. Der Chef will sogar eine eigene Stelle für Ruslan durchsetzen und ihn als Leiter von drei Werkstätten einsetzen.
Mariupol vermisse ich nicht – es ist nicht mehr meine Stadt. Dort lagen die Leichen meiner Landsleute und ich werde nicht mehr durch diese Straßen laufen können. Vor kurzem besuchten wir Freunde in Deutschland, und am Ende der Reise bemerkte mein Mann, als wir ins Flugzeug stiegen: „Gott sei Dank, wir fliegen nach Hause.“ Und genauso ist es.