Mein Bein brauchte sehr lange, um zu heilen, erst im September wurde der Gips entfernt. Mein Sohn ist auch in Behandlung – er ist behindert, wächst nicht und hat Probleme mit der Wirbelsäule.
Meine Mutter ist noch immer in Mariupol. Dort wird bis heute nicht geheizt und wir haben schon November. Gas gibt es auch nicht, aber die neue Administration hat Fenster eingesetzt – die billigste Sorte. In der Stadt herrscht Zerstörung, sie ruft an und weint andauernd: ich werde euch niemals wiedersehen usw. Man hat gerade so eine Internetverbindung eingerichtet und jetzt können wir wenigstens telefonieren.
Rationen werden ausgegeben, für kostenloses Brot muss man anstehen. Die Preise sind stark angestiegen – ein Bekannter hat sich als Spediteur niedergelassen, schaut sich die Ladezettel an und sieht, dass die Preise jede Woche steigen. An Kraftstoff mangelt es und auch mit der Wasserversorgung gibt es Probleme.
Es ist zwar so, dass meine Mutter jetzt zwei Renten bekommt – eine ukrainische und eine russische. Bis Oktober kochte sie am Feuer, aber mein Bruder kaufte vor kurzem eine Gasflasche, mehrere Herde werden elektrisch. Meine Mutter hatte auch einen Herd, aber die Sicherungen springen heraus…
Die Leute aus den Nachbarhäusern kochen immer noch auf der Straße, es ist völlig unklar, wie sie über den Winter kommen werden.
Meine Mutter hat den vierten Schlaganfall hinter sich, sie selbst kann nicht zu uns fahren, aber ob man mich nach Mariupol lässt – daran bestehen Zweifel angesichts meines proukrainischen Facebook-Profils.
Bis heute wache ich nachts voll Angst auf
Alle, mit denen wir zusammen im Keller gesessen haben, sind weggefahren. Meine beste Freundin ging nach Israel mit ihren Eltern, eine andere Freundin ist mit ihrer Familie in Kiew – sie sitzen den halben Tag ohne Strom da. Eine Familie begab sich zuerst nach Budapest und ist jetzt in der Slowakei. Es gibt auch Freunde, die nach Deutschland, Österreich und die Schweiz gegangen sind.
Einige sind auch in Mariupol geblieben – zum Beispiel unser Chefkoch. Er fuhr zunächst auf die Krim, aber dort gab es nur Saison-Arbeit und die Preise waren verrückt. Er kehrte nach Mariupol zurück – er gibt zu, ihm war ja klar, dass alles schlecht sei, aber in diesem Ausmaß… Ein Gespenst von einer Stadt, wenn du ein intaktes Haus siehst, wunderst du dich, weil du den ganzen Tag über durch Ruinen gehst. Das Haus unseres Chefkochs traf ein Fliegerangriff, im Dach war ein Loch. Zum Glück hatten ihm Nachbarn die Schlüssel ihrer Wohnung im nächsten Haus gegeben.
Er bekam ein Kind, wollte eine Kaffeebar eröffnen und etwas verdienen. Er ist ein sehr guter Koch. Aber die Miete war unverschämt hoch, so dass er keine Chance hatte… Die Menschen sind depressiv, sogar die jungen. In Mariupol gibt es keine Arbeit außer auf dem Bau, da ging meine Schwiegertochter, um für sie Essen zu kochen, was soll man machen?
Wir hatten ein normales Leben, arbeiteten, trafen uns mit Freunden, machten Pläne. Alles war in einem Augenblick zu Ende.
Bis heute wache ich nachts voll Angst auf. Inzwischen kann man schon ein Martyrologium zusammenstellen. Katja verlor ihren Stiefvater, ihre Mutter und einen Onkel – direkter Treffer einer Granate. Eine Freundin aus meiner Kindheit – Alena – rief mich an, das Haus ihrer Schwester wurde getroffen – sie ist bei lebendigem Leibe verbrannt und ihr Mann sprang aus der 7. Etage und starb. Viktor – das ist der Barmann aus dem Restaurant, das ich leitete, erlitt eine Verletzung, durch die er bis heute auf einem Ohr taub ist.
Alexei, der mit uns im Keller lebte, erlitt eine Quetschung und Dima zersplitterten die Ferse und der Ellenbogen und zudem hatte er Brandwunden am Hals. Als er schon in Deutschland war, entfernten die Ärzte einen Splitter, sie vermuten eine Phosphor-Verbrennung.