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Isjum
Ein Schuss aus der Rakete „Grad“ („Hagel“) tötete meinen Mann, meinen Sohn, meine Mutter und unseren Hund
Irina Schiwolup, Notar
Nach der Operation
Foto mit freundlicher Genehmigung von Irina Schiwolup
Kaum hatten sie mich im Rollstuhl in mein Zimmer gebracht, da setzte ich mich sofort auf das Bett und die Unterhaltung begann… Also, am 24. rief mich mein Sohn um fünf Uhr morgens aus Charkow an und sagte, dass man sie bombardiere – er wohnte auf der Belgoroder Seite. Ich sprang auf, begann zu schreien, er solle sich schnell in den Keller begeben und dann nach Isjum gehen. Am nächsten Tag kam er mit der letzten Regionalbahn aus Charkow.

Dann kam ein Anruf eines Kollegen, ihr Haus werde bombardiert, Freunde riefen aus dem benachbarten Distrikt an, bei ihnen zerbombe man das Dorf, wo sich seit Urzeiten eine Militäreinheit befand. Es ergab sich ein Strom von Verletzten und am 25. begannen die Explosionen auch bei uns. Ich schlug vor wegzufahren, aber meine Mutter und mein Mann wollten nicht und ich konnte sie nicht allein lassen.
Irinas Sohn, Mutter und Ehemann
Foto mit freundlicher Genehmigung von Irina Schiwolup
Ich allein überlebte

Warum liefen die Leute nicht sofort weg? Niemand glaubte, dass man die Stadt dem Erdboden gleich machen würde. Aber sie zerstörten die Schulen, Kirchen und Gebäude, die beide Weltkriege überlebt hatten. Isjum tilgten sie vom Gesicht der Erde. Unseren Berg Kremenez konnten sie nicht umgehen. Wie die Deutschen es 1941 gemacht hatten, so platzierten die Russen Pontons an derselben Stelle und unsere schlugen sie wiederum. Der Berg war mit russischen Leichen übersät, aber ein Verräter führte sie in die Stadt. Alle wissen, wer es war, und ich denke, dass man ihn fasst.

Am 1. März schliefen wir in unserem Haus in der vierten Etage und plötzlich schreit mein Mann: „Ein Flugzeug!“ Und wir hatten das Gefühl, als flöge es direkt in unser Fenster. Die Bombe wurde auf den Platz abgeworfen und wir wohnen etwas tiefer – das erste Haus hinter dem Stadtexekutivkomitee. Die Druckwelle war so stark, dass sie mich durch das gesamte Schlafzimmer bis an die Tür schleuderte – mein Mann half mir auf. Im Allgemeinen versteckten wir uns im Badezimmer, dann stiegen wir in den Keller hinunter und bald darauf zogen wir zu meiner Mutter – sie hat ein eigenes Haus mit einem Keller. Damals bombardierten sie alle anderthalb Stunden – ein Flugzeug folgte auf das andere. Eines Tages schien es ruhiger zu sein, aber abends begann der Hund zu winseln. Mir war klar, dass ein Anflug nahte, und da landete ein Geschoss des Bombenwerfers „Grad“ direkt in unserem Flur, wo wir uns alle befanden – ich, meine Mutter, mein Sohn, mein Mann und der Hund. Ich allein hatte überlebt. Ich grub sie aus, ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm – mein Kopf war verletzt, alles war voll Blut, meine Beine waren gebrochen. Aber ich räumte die Balken auseinander. Mein Sohn starb in meinen Armen, wahrscheinlich infolge innerer Blutungen.

Wir sind alle Brillenträger und bei uns allen blieben die Augen unversehrt. Seltsam… Ich weiß nicht, warum ich überlebte, aber ich kroch ins Haus, fand Wasser, stieg ins Bett, zog die Jacke meines Sohnes an, die Mütze, und lag acht Tage lang so da – ohne Fenster und Dach, bei minus zehn Grad Frost, die Raketengeschosse flogen bei Tag und Nacht, die Körper meiner Angehörigen lagen auf der Schwelle. Ich trank Wasser, Wurst nahm ich aus dem Rucksack meines Sohnes. Ich erinnere mich an den Geruch von Kerosin. Ich öffne die Augen – der Schiebetürenschrank gegenüber ist ganz zerlöchert, das bedeutet, dass ich mich im blinden Winkel befand – Gott sei Dank.

Alles, was nach dem Beschuss vom Haus von Irinas Mutter übrig blieb
Foto mit freundlicher Genehmigung von Irina Schiwolup
Ich liege da und einer mit einer Maschinenpistole kommt zu mir, die Hand am Abzug, hebt die Bettdecke hoch, stößt gegen das Bein, es ist im Gipsverband
Eines Tages hörte ich die Stimmen meiner Nachbarn, ich begann zu schreien, sie zogen mich heraus, wuschen mich und gaben mir zu essen. Dann kam ein Hilfsarzt, untersuchte mein Bein – er sagt, ich brauche einen Arzt. Aber zu der Zeit hatten sie bereits das Krankenhaus bombardiert. Ein Chirurg war jedoch da geblieben. Meine Nachbarn setzten mich in ein Auto und brachten mich unter Bombenbeschuss zum Arzt – Kusnezow Juri Ewgenewitsch. Assistiert von einer kleinen Krankenschwester nähte er die Wunde ohne Narkose. Ich weiß noch, dass sie schrien, ich solle nicht ohnmächtig werden, es gebe keine Mittel für eine Reanimation. Kurz und gut, sie flickten die Wunde und legten mich in den Keller des Krankenhauses. Aber ich hatte Glück, es waren noch viele Medikamente geblieben, Verbandsmaterial usw. Sie punktierten gründlich und legten Verbände an. Ich verbrachte 25 Tage im Keller. Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, das alles zu ertragen.

Dem einzigen verbliebenen Arzt drohten sie an, ihm in seine Beine zu schießen

Da lagen sehr viele Menschen mit Splitterwunden und Knochenfrakturen. Zudem Lungenkrankheiten, sie lebten schließlich in den Kellern, und auch Alte mit Schlaganfällen. Irgendwer versuchte der Ärztin Geld zuzustecken, sie nahm es nicht: „Hier arbeiten keine Beutemacher, sondern Menschen.“ Die Leiterin der Laboratorien war eine 82jährige Jüdin, die während des Holocausts gerettet wurde. Sie führte die wesentlichen Blut- und Urinanalysen durch – das, was fast ohne Reagenzien möglich ist. Wir leben in einer Hofanlage, sie kennt mich. Eines Tages brachte sie ein Glas eingemachte Früchte mit. Ich frage wozu. Eleonora Danilowna antwortet: „Irotschka, das ist für dich.“

Ich organisierte im Keller einen Kreuzworträtsel-Klub. Zunächst drei Mitglieder, dann fünf, dann kamen acht – wir stellten Stühle auf. Bomben fallen, aber wir führen ein Eigenleben. Das lenkt uns ab, doch schrecklich ist es, wenn die Wände beben und der Putz auf die herabrieselt. Ich kann kaum mit Krücken irgendwohin humpeln. Aber es gibt auch Bettlägerige. Da war ein junger Mann, Wlad, mit Frakturen des Beckens, der Arme und der Beine. Eine Wand war eingestürzt – der Vater starb, aber er überlebte. Ihr Haus war zerbombt worden, im Garten ragen acht „Schwänze“ der Raketen. Seine Frau versorgt ihn. Ich versuche ihn anzurufen, aber es klappt nicht… (Wlad und Anja gingen über Russland nach Polen, jetzt sind sie in Lwow, wo der Mann eine Rehabilitationskur macht, - Anmerkung der Redaktion).

Zu dieser Zeit hatten die Russen schon die Stadt eingenommen, Ende März waren sie gekommen. Sie taten niemanden etwas an. Aber dann wurden sie von den Leuten der Sonderbezirke Donezk und Lugansk und den Leuten von Kadyrow abgelöst. Die Tschetschenen kamen nicht zu uns in das Krankenhaus, aber die Leute der Volksrepublik Donezk – das war am schlimmsten. Dem einzigen noch gebliebenen Arzt sagten sie: „Wir schießen jetzt auf deine Beine, wir werden sehen, was für ein Arzt du bist.“ Ich liege da und einer mit einer Maschinenpistole kommt zu mir, die Hand am Abzug, hebt die Bettdecke hoch, stößt gegen das Bein, es ist im Gipsverband. Ich denke „O mein Gott, jetzt erschießt er mich“. Sie schlugen vor, mich nach Russland zu überführen, nach Belgorod. Der Arzt sagte, diese Patientin dürfe in keinem Falle angerührt werden, er jagte ihnen extra Angst ein.

Zerstörte zivile Gebäude in Isjum
Ich hatte eine Abmachung getroffen, dass meine Angehörigen beerdigt wurden. Die Leute fingen an, das Grab auszuheben, die Erde war gefroren, aber da begannen sie von einem Hubschrauber aus den Friedhof zu beschießen
Im Allgemeinen gingen die Russen schnell wieder, aber diese blieben – alle 50 Meter Kontrollposten, wie Penner gekleidet, mit Helmen aus dem Zweiten Weltkrieg. Einige in Turnschuhen, andere in irgendwelchen Sandalen. Eine Ansammlung von Dieben und eine Bettlerbande.

Sie inspizierten alle Wohnungen, öffneten die Häuser, jagten die Leute aus den Kellern. Wenn abgeschlossen war, knackten sie das Schloss. Die Nachbarin einer Bekannten fuhr weg, kehrte dann wegen ihrer Papiere in ihr zweistöckiges Haus zurück und sieht, dass alles gepackt ist, auch die Kinderkleidung, das Kochfeld ist abmontiert und der Geschirrspüler. Ein Soldat ging hinter ihr mit einer Maschinenpistole und Tante Shenja sagt: „Lassen Sie mir doch ein paar Kleidungsstücke da, es ist kalt.“ Er war nicht dazu bereit, sie nahm nur Medaillen ihres Mannes und ihre Unterlagen mit.

Sie bombardierten sogar den Friedhof

In unserer Wohnung waren die Fenster und Türen zerbrochen, aber auch dort räumten sie gründlich auf und nahmen einige Sachen mit, Gel und sogar meine Slips, entschuldigen Sie die intimen Details. Bei den Nachbarn klemmte eine Eisentür, sie schlugen sie heraus und rissen die Dreizimmerwohnung in Stücke. Autos wurden weggenommen, Garagen aufgebrochen, Bürogeräte abtransportiert, sie plünderten. Sie verlangten Schnaps, Essen. „Gebt Fleisch“, sagen sie, aber woher in einem Plattenbau Fleisch nach einem Monat Krieg.

In unserer Nähe ist eine Zigeunersiedlung. Im Allgemeinen jagten sie sie in die Kälte, sagten, Zigeuner seien keine Menschen. Sie haben die Häuser abgebrannt, ein Panzer hat sogar ein Haus plattgemacht. Antifaschisten, zum Großteil.

Ich hatte eine Abmachung getroffen, dass meine Angehörigen beerdigt wurden. Die Leute fingen an, das Grab auszuheben, die Erde war gefroren, aber da begannen sie von einem Hubschrauber aus den Friedhof zu beschießen. Einem Menschen wurde dabei ein Arm abgerissen. Die Allee der Veteranen des Krieges in Afghanistan - sogar sie wurde bombardiert. Dort steht ein Ehrenmal für die Gefallenen im Großen Vaterländischen Krieg – das hält keinen ab.

Es gab eine Zeitlang eine gewisse Ruhe, während Freiwillige Körper in Gartenbeeten, Gärten, neben Hauseingängen freischaufelten. Sie fotografierten alle, beerdigten sie und sendeten Nummern zu. Sie begruben sie in einem abgelegenen Friedhof, weiter zum Wald hin. Ich weiß nicht, wo die Meinen liegen, unter welcher Nummer… Es ist auch nicht möglich, eine Sterbeurkunde zu bekommen. Freiwillige wurden nicht zugelassen, sie schlugen vor, die Verletzten aus den Krankenhäusern zu holen. Man erlaubte es weder ihnen, noch den internationalen Organisationen. Während anfangs die Menschen irgendwie auf geheimen Wegen durch den Wald entkamen, so hatten sie jetzt (Anfang Mai) alles abgeriegelt. Der Busbahnhof wurde bombardiert. Die Evakuierungsbusse wurden beschossen. Eine Freundin von mir fuhr mit ihrer Mutter fort, der Schwiegersohn schützte die Großmutter mit seinem Körper. Er wurde verletzt, aber blieb am Leben, Gott sei Dank. Eine andere Freundin – die Gynäkologin Lidija Medinskaja – ging zu einer Geburt in den Keller - sie wurde von einem Geschoss getötet. Beim Leiter der Sparkasse starben Mutter und Bruder mit ihrer gesamten Familie.

Die Stadtbewohner schreiben, dass dort alles gestohlen wird, mit Lastwagen transportieren sie Haushaltsgeräte, Toilettenschüsseln usw. nach Russland
In einem mehrstöckigen Haus kamen am 9. März, die einen sagen 50, andere 60 Menschen unter den Trümmern ums Leben – ganze Familien starben. Niemand hat sie gezählt. Ein Freund meines verstorbenen ersten Mannes, sie sind zusammen aufgewachsen, kam dort ums Leben, aber wurde erst nach Ostern begraben, Ende April bekamen sie seine Leiche.

Hinter Isjum liegt das große Dorf Kamenka – dort lebten Freunde Puschkins, Dekabristen, und aus diesem Dorf sind zwei Häuser geblieben. Nicht weit von uns entfernt ist die Lawra (Kloster/ Einsiedlerkolonie) von Swjatogorsk – dorthin liefen die Menschen um sich zu retten – es wurde ebenfalls bombardiert, das haben nicht einmal die Nazis getan.

Mir wurde ein Foto meines Hauses geschickt – ich kann es nicht ansehen

Wie überlebten wir? Wir kochten auf einem Feuer, legten die Lebensmittel zusammen, einer brachte Wasser, einer Brennholz und andere kochten. Ins Krankenhaus kamen Nachbarn zu mir, sie sparten es sich vom Munde ab, brachten Essen, naja, wenigstens etwas, Granatapfelsaft usw. Die besten Charaktereigenschaften des Menschen kamen zum Vorschein, sie teilten ihr Essen sogar mit ihren Haustieren.

Doch auch in der Familie gibt es schwarze Schafe. Ein Bekannter wurde denunziert – er leitete einen Verein für militärhistorische Rekonstruktion und spielte für die „deutsche“ Mannschaft. Er hat eine Nazi-Uniform, Munition usw. Alles war offiziell, Auftritte fanden in der ganzen Ukraine statt. Jemand hat ihn angezeigt. Seine Frau sagt: „Ich will nicht, dass man dich vor meinen Augen erschießt, geh.“ Und er lief 20 km bis Swjatogorsk über verminte Felder. Er stieg aus, arbeitet als Freiwilliger im Dnjepr, übergibt Lebensmittel und Medikamente.

Die Russen setzten ihren Bürgermeister ein – einen Kollaborateur aus unserer Nachbarschaft. Ich kenne ihn seit meiner Kindheit, er ist drei Jahre jünger als ich. Ein ehemaliger Bulle, der aus der Abteilung für Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität entlassen wurde. Also ein Mensch, der gegen Betäubungsmittelkonsum kämpfte und Drogen selbst unter die Leute brachte. Jetzt erzählt er von den Herrlichkeiten der russischen Welt, wie gut wir leben werden. Sie versprechen einen Stadtgarten anzulegen und dabei sind sie nicht einmal fähig, für Beleuchtung zu sorgen. Überhaupt war keine Infrastruktur erhalten geblieben – weder Krankenhäuser, noch Schulen. Man hat mir ein Foto meines Hauses geschickt – ich kann es nicht ansehen… Die Stadtbewohner schreiben, dass dort alles gestohlen wird, mit Lastwagen transportieren sie Haushaltsgeräte, Toilettenschüsseln usw. nach Russland. Aber am meisten leiden die Leute unter Mangel an Informationen, es gibt kein Internet, aber man redet ihnen ein, dass Isjum bereits zur Region Belgorod Russlands gehört, sogar im Standesamt gibt man entsprechende Dokumente aus.

Gleichzeitig sind Fakes allgegenwärtig. Wir haben hier einen großen Bauernhof bei uns – mit beheizten Kuhställen aus den Niederlanden, der Besitzer ist pro-ukrainisch eingestellt, er ist nach der Besetzung weggefahren. Es hieß, dass bei ihm Flaggen des „Rechten Sektors“, Instruktionen der NATO und Pläne zur Einnahme des Donbas. Das ist einfach lächerlich, Instruktionen der NATO in einem Kuhstall.

Hilfsgüter sind eine andere Geschichte. Während einer dieser Auktionen beispielloser Großzügigkeit begann sich ein Mann über irgendetwas zu ärgern und wurde einfach erschossen. Die Leute gingen auseinander. Ein anderes Mal plünderten sie ein Lager mit Süßwaren und verteilten Bonbons an die Kinder als humanitäre Hilfe. Obwohl alle sahen, dass es ukrainische Süßigkeiten waren.

Gebäude der Realschule (erbaut 1882) in Isjum nach der Schlacht von Isjum (2022)
Foto mit freundlicher Genehmigung: Staatliche Regionalverwaltung Charkiw
Zu dieser Zeit gab es schon kein Verbandsmaterial mehr, der Arzt gab mir zwei Binden: „Du wirst sie waschen.“
Einmal lief ein Nachbarjunge durch das Krankenzimmer: „Tante Ira, wollen Sie eine russische Offiziersration?“ Ich wollte sie aus Prinzip nicht essen, aber ich schaute auf das Datum auf der Verpackung: Haltbarkeitsdatum Februar 2020 – 12 Monate. Und das ist die Zuteilung für die Offiziere. Ein anderes Mal brachten ihre Soldaten eine Creme „Bodjaga“ für Prellungen, ich warf sie weg – ich will sie nicht, ich gehe mit blauen Flecken umher. Als Listen für Rationen gemacht wurden, weigerte ich mich – ich brauchte nichts von ihnen. Übrigens gaben sie nicht allen etwas. Eine Freundin wurde angerufen – geh zur Arbeit für Rationen.

Auch mit dem Trinkwasser gab es Probleme – die Stadt lag auf dem Berg und die Brunnen waren bald erschöpft, sie haben sich dort selbst herumgetrieben. Jetzt nehmen sie Wasser vom Donez, aber im Fluss schwimmen manchmal Leichen.

Sie schleppten über den Donez auf einer Hängebrücke

Während der ganzen Zeit versuchten mich Bekannte rauszuholen, aber man ließ sie nicht auf diese Seite des Flusses (unsere Stadt wird durch den Donez geteilt), begann zu schießen und zwang sie umzukehren. Und dann flog ein Geschoss in ihr Haus, alles verbrannte, die Kühlschranktür befand sich auf dem benachbarten Dach. Sie blieben wie durch ein Wunder am Leben, es geang ihnen, irgendwie aus Isjum herauszukommen und wir hatten einige Wochen keine Verbindung.

Dann suchte ein Mann in unserem Krankenhaus seine Frau, die etwa so alt wie ich ist. Er kehrte nach Hause ins Dorf zurück, wo unsere Freunde mit ihrer Mutter leben, erzählt er. Aber eine Freundin der Mutter weint, nennt unseren Nachnamen und sagt, sie sollen alle gestorben sein. „Eben diesen Namen habe ich im Krankenhaus gehört“, erinnert er sich. Und am nächsten Tag kamen sie zu mir und brachten mich ins Dorf, 20 km von der Stadt entfernt. Als ich entlassen wurde, kamen alle Krankenschwestern zusammen, umarmten und küssten mich. „Nur nicht weinen“, sage ich zu ihnen. Zu dieser Zeit gab es schon kein Verbandsmaterial mehr, der Arzt gab mir zwei Binden: „Du wirst sie waschen.“

Sie zogen mich auf einem kleinen Wagen über die Brücke… das war am 7. April. Als sie mich brachten, lief eine Schar Bekannter herbei. Ich sage, sie sollen mich nur nicht auf die Stirn küssen, ich sei noch am Leben, die Tränen wurden schnell weggewischt. Im Dorf wuschen sie mich, gaben mir zu essen und legten mich in ein warmes Bett – Tante Raja, die medizinisch ausgebildet war, verband mich. Und einige Tage später erschienen Freiwillige, die mich in die Stadt Dnipro brachten. Wieder wurde ich über den Donez über eine Hängebrücke befördert, dann ging es auf Ziegenpfaden durch den Wald. In Dnipro nahm mich eine Freundin auf. Als ich ins Krankenhaus kam, fragten sie mich, woher ich käme. Ich sagte, ich sei aus Isjum, da wurde es ringsum still. In der dortigen traumatologischen Abteilung wurde ich ein wenig zusammengeflickt, der Fuß war gebrochen, Fleischstücke waren herausgerissen.

Ich blieb 3 Wochen in Dnjepr, währenddessen setzten Freunde aus Israel eine wahre Kampagne in den sozialen Netzwerken in Gang. Dadurch wurde eine Kusine väterlicherseits in Toronto gefunden, die über die örtliche jüdische Gemeinde in die Gemeinde Dnjepr kam. Ich stellte meine Dokumente wieder her in Anbetracht dessen, dass ich im Gebiet von Dnjepropetrovsk geboren war. Mein Vater war Jude und auch in mütterlicher Linie sind entsprechende Wurzeln, aber dafür gibt es keine Nachweise. In Isjum selbst gab es keine jüdische Gemeinde, obwohl dort einige Juden lebten, selbige Eleonora Danilowna, zum Beispiel. Ein weiterer Bekannter ist Jude – er erlitt Quetschungen, die Schwester seiner Frau wurde umgebracht.

Isjum nach der russischen Besetzung (9. September 2022)
Foto mit freundlicher Genehmigung: Army Inform
Die Stadt lebte ihr Leben, baute Erdbeeren an, sammelte Pilze, trieb Handel, baute, legte Wege und Brücken an. Niemand schrie: „Putin, komm!“
Ganz allgemein gilt mein Dank der Gemeinde Dnjepr, der Stadt Kriwoj Rog und Toronto und natürlich Jüdische Agentur „Sochnut“ (Jewish Agency for Israel), die meine Evakuierung nach Warschau zur medizinischen Behandlung organisiert haben. Ich fuhr in Begleitung einer Militärärztin aus Kriwoj Rog, der Tochter eines Rabbiners – Musa. Sie brachten mich zur polnischen Grenze, dort trafen sie Vertreter von „Sochnut“ und leiteten mich weiter nach Warschau. Heute sind wir um 4 Uhr morgens angekommen…

Wir haben eine sehr schöne kleine Stadt. Hatten

Eine meiner Schwestern lebt in Russland. Sie lud mich zu sich ein, aber nach Russland fahre ich nicht. Zuerst hat sie allgemein gesagt, gedulde dich drei Tage – sie werden dich freilassen. Nun, ich erzählte ihr, wie sie mich befreit hatten – von allem. Jetzt spricht sie mit mir nur noch über die Gesundheit, weiter geht das Gespräch nicht.

Als sie mich abtransportierten, waren noch unbeschädigte Häuser da. Aber dann, selbst wenn über die oberen Stockwerke geflogen wurde, begannen sich Risse zu zeigen. Der Hausverwalter unseres Hauses ging in den Keller des ersten Eingangs und ebenda schlug eine Rakete ein. Sie waren verschüttet und mussten die Wand zum benachbarten Eingang einschlagen. Dann haben sie die Wände extra aufgestemmt, um von einem Eingang in den anderen zu laufen, es gab keinen Ausgang aus dem Haus.

In meinem Eingang leben noch einige Familien – eine achtzigjährige Großmutter und andere Leute. Sie kochen gemeinsam auf Feuer, besorgen sich irgendwie Wasser, es gibt eine Quelle. Sie überleben als Kommune. Sie schließen sich zusammen, wenn das Haus bombardiert wird – geht, wer unversehrt ist, in den Keller.

Ein Bekannter rief aus dem Dorf an, in das man mich gebracht hatte – Sniwakowka – während er die Kinder besuchen fuhr, hatten sie sein Haus vollständig geplündert, das Auto weggenommen, er musste fliehen.

Zuerst verminten sie die gesamte Stadt und jetzt filmen sie Geschichten über Minenräumung, während sie in den Gärten Sprengungen vornehmen – alle Fenster gehen zu Bruch. Dabei erzählen die aus Isjum Geflüchteten, dass alle Straßen vermint seien und es gefährlich sei zu gehen.

Meine Mutter hat eine Schwester – sie hat Alzheimer. Gestern wurde ihr Haus in Brand gesteckt. Der Bruder aus Kiew hatte abgemacht, dass sie durch Russland nach Polen kommen sollten, und dort würde er sie aufnehmen. Viele fahren bei uns durch Russland und dann gleich in die baltischen Länder oder nach Polen. Viele meiner Kollegen, Frauen mit Kindern, sind schon in Polen – in Krakau, Wrozlaw, einige in der Slowakei, einige im Westen der Ukraine. Aber alle wollen zurück. Meine Freundin, eine schicke Rechtsanwältin mit langen Fingernägeln und gefärbten Augenwimpern, sagt, sie werde mit den eigenen Händen jeden Ziegelstein wieder aufbauen. Unser Städtchen ist sehr schön. War!

Ich erlaube mir nicht, auf all das einzugehen, man muss leben und sei es nur wegen seiner Verwandten, um auf die gerechte Bestrafung zu warten. Auge um Auge
Wozu das alles? Bei uns ist die Mehrheit russischsprachig, Isjum ist multinational – seinerzeit gab es hier viele Armenier, die aus Baku gekommen waren, der vorige Chef des Stadtrats war Armenier. Aserbaidschaner aus Nagorno Karabach, Osseten, es gibt eine tschetschenische Diaspora. Was für eine Entnazifizierung ist dort?

Die Stadt lebte ihr Leben, baute Erdbeeren an, sammelte Pilze, trieb Handel, baute, legte Wege und Brücken an. Niemand schrie: „Putin, komm!“ 2014 versuchten sie es noch, aber als sie Migranten aus dem Donbass sahen, ließen viele davon ab.

Tatsächlich verließen meine israelischen Freunde 2014 Donezk, damals half ich ihnen, aber jetzt helfen sie mir. Solche Sachen vergisst man nicht.

Die Generation muss vorbei sein, damit man ihr verzeihen kann, was sie angerichtet hat

Israel hatte auch kein Glück mit seinen Nachbarn. Nur gut, dass die Ukraine nur zwei „Brudervölker“ hat, Russen und Belarussen. Aber eine Generation muss vergehen, um das zu verzeihen, was sie angerichtet haben. Ich verstehe nicht, wie man in der Nacht eine schlafende Stadt bombardieren kann. Und dann zu sagen, dass wir selbst auf uns schießen. Dann habe ich also selbst mein Haus zerbombt, meine Verwandten getötet, mir selbst den Fuß abgerissen. Und schließlich glaubt das noch jemand.

Ich erlaube mir nicht, auf all das einzugehen, man muss leben und sei es nur wegen seiner Verwandten, um auf die gerechte Bestrafung zu warten. Auge um Auge. Ich weiß, dass mein Kummer nur ein Tropfen im Meer des allgemeinen Kummers ist. Das Schrecklichste war für mich, allein auf dieser Welt zu sein. Ich bin allein mit meiner Mutter und ich hatte einen Sohn – 33 Jahre alt. Da liege ich unter einem schönen Himmel, über mir das wunderbare Sternbild des Orion. Die Sterne sind wie Lämpchen, Leuchtspurgeschosse fliegen und du denkst: wie kommt das, vor fünf Minuten hattest du alles, aber jetzt nichts. Ich lag da und dachte, dass ich niemals Enkel umarmen würde. Ich bin doch eine Frau, ich möchte eine junge, schöne Großmutter sein. Aber mir haben sie einen Teil meines Lebens genommen, die Erinnerung an meine Vorfahren, mir war es nicht gelungen, auch nur eine Fotografie mitzunehmen. Und dort waren Aufnahmen des Jahres 1920 mit der Familie meiner Großmutter mütterlicherseits – Marija Dawidowna, und ihres Vaters - David Markowitsch. Und meine Freundin hatte kein Bild ihres Kindes – weder aus den ersten Jahren, noch aus der Schulzeit, der Schulentlassung oder der Hochschule. Das Haus war völlig ausgebrannt. Sie haben die Verbindung aller Generationen zerrissen.

Aber wie viele Menschen nahmen Anteil an meinem Schicksal! Sowohl Freunde als auch Kollegen… Als ich von mir hören ließ, rief mich der Leiter der Notariatsabteilung Charkiw unter Tränen an: „Wir freuen uns, dass Sie am Leben sind, Irina Witalewna – wir werden jetzt alles organisieren, Hilfe, Geld – nur weinen Sie nicht, ich habe Blut verloren, die Adern sind blutleer. Ich darf nicht weinen.“ Ich habe es nur einmal nicht ausgehalten, im Krankenhaus, im Keller, ich konnte es nicht für mich behalten, verstehen Sie. Die Krankenschwester hatte ihr Leid, ich meinen Kummer. Wir umarmten uns, sie war kalt wie Eis, ich heiß wie Feuer. Und wir sagten uns: wir müssen überleben… Denen zuliebe, die gegangen sind – sie haben uns geschützt – müssen wir eine blühende Ukraine aufbauen. Und sehen, wie die Leichen der Feinde an uns vorbeischwimmen. Ich liebe das Leben. Deshalb werde ich kämpfen.

Antrag auf Umbettung von Familienangehörigen auf dem städtischen Friedhof von Isjum
Foto mit freundlicher Genehmigung von Irina Schiwolup
P.S. Zwei Monate später

Ich kann schon etwas gehen, mit Krücken natürlich. Die Haut reicht noch nicht aus, um das Bein zu beugen. Die Ärzte werden entscheiden, was da zu tun ist. Hier erfuhr ich, dass das andere Bein auch gebrochen ist und Absplitterungen darin sind.

Ich lebe bei einer Freundin in Kfar-Sabe, obwohl es nicht ewig so weitergehen kann. Sie haben mir das Kinderzimmer gegeben, aber am 1. September muss das Kind zur Schule gehen. Und bis jetzt konnte das Absorptionsministerium auf meine Fragen, wie es weitergehen solle, keine Antwort geben. Ich kann mir nicht einmal einen Krug Wasser holen, es gibt keine Achillessehne, es schmerzt sehr…

Auf der anderen Seite passiert in Isjum etwas Schreckliches. Menschen versuchen den Damm zu überqueren, rufen, weinen. Man kann nirgendwohin zurückkehren, selbst das, was geblieben ist, zerschlagen sie. Das bedeutet, man muss sich hier einrichten. Heute sind es eben zwei Monate, dass ich in Israel bin. Mein ganzes Leben wurde auf den Kopf gestellt. Ich begann hier aufzutauen, eine Weinerlichkeit stellte sich ein, die mir nicht eigen ist. Es ist schwer. Bis jetzt reagiere ich auf alle Geräusche. Gestern krachte etwas, offenbar renovierten die Nachbarn. Früher verwechselte ich die Sirene des lokalen Krankenwagens mit Luftalarm, jetzt kann ich schon unterscheiden.

Ganz gleich, die Welt ist viel besser als wir denken, sie hilft vielen Menschen. Deswegen lohnt es sich zu leben.

Lange Rehabilitation in Israel
Foto mit freundlicher Genehmigung von Irina Schiwolup
P.P.S. Ein halbes Jahr später, November 2022

Ich bin nach Netanya gefahren, habe eine kleine Wohnung gemietet und gehe draußen mit einem Stock. Aber bis heute kommt aus den Wunden noch Sekret, die Ärzte schneiden und säubern immer noch, aber das alles sind nur Kleinigkeiten. Gestern erhielt der Arzt, der im Keller des Krankenhauses Menschen gerettet hat, einen Orden. Er hat ihn verdient. Nach der Befreiung kehren viele nach Isjum zurück, wenn feststeht wohin, dann gaben sie Licht, Wasser und Gas, aber keine Heizung und sehr vieles ist zerstört. Es erfolgte eine Exhumierung, ich habe alle Hotlines gekappt, ging aber zum Ermittler, fand meine Verwandten, erfuhr die Beerdigungsnummern. Die Staatsanwaltschaft schickte Anweisungen, wie der DNA-Test im Ausland zu machen sei. Er war schon gemacht und der Ukraine übergeben worden. Ich warte auf die Resultate. Nach Isjum kann ich zur Zeit nicht zurückkehren, wegen der Wunden kann ich keine Schuhe anziehen und dort liegt Schnee und es ist kalt. Ich warte auf die Wärme.

Die Zeugenaussage wurde am 6. März 2022 aufgezeichnet

Übersetzung: Dr. Dorothea Kollenbach