Wozu das alles? Bei uns ist die Mehrheit russischsprachig, Isjum ist multinational – seinerzeit gab es hier viele Armenier, die aus Baku geflohen waren, der vorige Chef des Stadtrats war Armenier. Aserbaidschaner aus Bergkarabach, Osseten, die vor den Russen geflohen waren, es gibt eine tschetschenische Diaspora. Was soll es dort zu entnazifizieren geben?
Die Stadt lebte ihr Leben, baute Erdbeeren an, sammelte Pilze, trieb Handel, baute, legte Wege und Brücken an. Niemand rief: „Putin, komm!“ 2014 versuchten sie es noch, aber als sie die Binnenflüchtlinge aus dem Donbass sahen, ließen viele davon ab.
Tatsächlich verließen meine israelischen Freunde Donezk 2014, damals half ich ihnen, und jetzt helfen sie mir. Solche Sachen vergisst man nicht.
Eine Generation muss vergehen, damit man verzeihen kann, was sie angerichtet haben
Israel hat auch kein Glück mit seinen Nachbarn. Nur gut, dass die Ukraine nur zwei „Brudervölker“ hat, Russen und Belarussen. Aber eine Generation muss vergehen, um das zu verzeihen, was sie angerichtet haben. Ich verstehe nicht, wie man mitten in der Nacht eine schlafende Stadt bombardieren kann. Und dann sagen, wir würden selbst auf uns schießen. Dann habe ich also selbst mein Haus zerbombt, meine Verwandten getötet, mir selbst die Ferse abgeschnitten? Und es gibt welche, die das glauben.
Ich erlaube mir nicht, in dem Ganzen zu versinken, man muss leben, und sei es nur wegen seiner Verwandten, um auf die gerechte Bestrafung zu warten. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich weiß, dass mein Schmerz nur ein Tropfen im Meer des allgemeinen Schmerzes ist. Das Schrecklichste war für mich, allein auf dieser Welt geblieben zu sein. Ich bin Einzelkind und ich hatte einen Sohn – 33 Jahre alt. Da liege ich unter einem schönen Himmel, über mir das wunderbare Sternbild des Orion. Die Sterne sind wie Lämpchen, Leuchtspurgeschosse fliegen, und du denkst: wie kommt das, vor fünf Minuten hattest du alles, aber jetzt nichts. Ich lag da und dachte, dass ich niemals meine Enkel umarmen würde. Ich bin doch eine Frau, ich möchte eine junge, schöne Großmutter sein. Mir haben sie einen Teil meines Lebens genommen, die Erinnerung an meine Vorfahren, ich konnte kein einziges Foto mitnehmen. Und es waren Aufnahmen aus dem Jahr 1920 dabei mit der Familie meiner Großmutter mütterlicherseits – Marija Dawidowna, und ihres Vaters – David Markowitsch. Und meine Freundin hat kein einziges Bild ihres Kindes – weder eines der ersten Fotos, noch aus der Schulzeit, vom Abschlussball oder der Hochschule. Das Haus ist völlig ausgebrannt. Sie haben die Verbindung aller Generationen zerrissen.
Aber wie viele Menschen nahmen Anteil an meinem Schicksal! Sowohl Freunde als auch Kollegen… Als ich mich meldete, rief mich der Leiter der Notariatsabteilung Charkiw unter Tränen an: „Wir freuen uns, dass Sie am Leben sind, Irina Witalewna – wir werden jetzt alles organisieren, Hilfe, Geld“ – „Weinen Sie bloß nicht“, habe ich gesagt, „ich habe viel Blut verloren, ich darf nicht weinen.“ Ich habe es nur einmal nicht ausgehalten, im Krankenhaus, im Keller, man kann das alles nicht unter Verschluss halten, verstehen Sie. Die Krankenschwester hatte ihr Leid, ich meins. Wir umarmten uns, sie war kalt wie Eis, ich heiß wie Feuer. Und wir sagten uns: wir müssen überleben… Für die, die nicht mehr da sind – sie haben uns geschützt – müssen wir eine blühende Ukraine wiederaufbauen. Und sehen, wie die Leichen der Feinde an uns vorbeischwimmen. Ich liebe das Leben. Deshalb werde ich kämpfen.