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Mariupol
Vor den Augen meiner sechzehnjährigen Tochter starben acht Menschen
Irina Poljuschkina, Mathematik-Lehrerin
Irinas Mutter

Foto mit freundlicher Genehmigung von Irina Poljuschkina
Am 24. morgens machte ich mich für die Arbeit fertig, ich hatte noch keinen Blick auf die Neuigkeiten geworfen, ich war schon auf dem Weg und plötzlich ruft die Mutter eines Schülers an und fragt, wie wir jetzt den Unterricht machen würden, im Zoom? Ich wunderte mich, aber sie antwortet: „Der Krieg hat schon begonnen, der Unterricht fällt aus.“ Ich schaltete den Fernseher an, und da werden Kiew und Charkow schon bombardiert.

Ich dachte, dass die Massenmedien eine Psychose inszenieren, im äußersten Fall wird es wie 2014 sein – sie schießen eine Woche und dann war es das. Ich kaufte nicht einmal besonders ein, aber als ich zu mir kam, waren die Geschäfte schon geschlossen. Dank sei der Synagoge – sie halfen mit Lebensmitteln.

Wir gingen auch „plündern“

Ich erinnere mich an mein erstes großes Erschrecken… Mein Sohn lebt seit vier Jahren in Israel. Als die Verbindung noch intakt war, rief er mich an: „Mama, von Berdjansk her nähert sich eine Kolonne mit 400 Panzern!“ Und in eben diesem Moment wird an unser Fenster geklopft (wir wohnen im Erdgeschoss) – da steht ein ukrainischer gepanzerter Personentransporter, ein Soldat schaute heraus und schrie: „Schnell alle in die Keller, ins Versteck, Panzer kommen aus Berdjansk!“

Foto mit freundlicher Genehmigung von Irina Poljuschkina
Ich schickte schnell meinen Mann und meine Tochter in den Keller, ich selbst ging zu meiner Mutter, sie ist krank und liegt die meiste Zeit im Bett. Aber diese Nacht passierte noch nichts, offensichtlich waren sie aufgehalten worden. Am folgenden Tag kamen sie, danach ging das Licht aus und es gab keine Verbindung mehr. Noch hatten wir Gas und Wasser, aber sie begannen schon zu bombardieren. Und dann wurde auch das Gas abgestellt.

Einmal schaue ich, die Nachbarn ziehen einen Handwagen, ich frage sie, woher sie kämen, und sie sagen, dass Mariupol eingekreist sei, die Soldaten hätten den „Metro“ (Supermarkt) geöffnet und ließen Menschen hinein. Meine Mutter leidet an einem insulinpflichtigen Diabetes, sie braucht eine besondere Diät, sie benötigt Buchweizen und Hafer. Kurz und gut, wir gingen auch „plündern“, obwohl es nur Selbsterhaltungstrieb war, wir nahmen nur das absolut Notwendige.

Vor dem Krieg hatten wir ein Auto. Ich kam von der Arbeit, mein Mann fuhr zum Geschäft, ich trug nichts Schweres. Und dann ging ich zur Zentralstelle, trage eine große, schwere Tasche und sehe, dass jemand einen halben Sack mit Kartoffeln wegwirft. Ich denke, man muss ihn mitnehmen, sonst bekommst du ihn nicht. Mit dem anderen Arm lud ich mir den Sack auf den Rücken, nahm die Tasche und ging. Als mein Mann das sah, sagte er: „Ich wusste nicht, dass du das kannst.“ Ich selbst hatte nicht gewusst, dass ich das konnte. Aber was ist da zu tun – wenn du leben willst, dann stell dich nicht so an.

Und jetzt setzte der Frost ein – in der Wohnung herrschte eine Temperatur von minus 5 Grad. Wir packten meine Mutter in drei Decken ein und legten Flaschen mit heißem Wasser um sie herum. Fast drei Wochen hat sie so dagelegen
Die ersten Tage übernachtete ich zu Hause, obwohl schon Bomben fielen. Aber dann traf eine Granate auf den Kinderspielplatz und eine Schockwelle zerbrach die Fenster im Zimmer meiner Tochter und im Schlafzimmer meiner Mutter. Dann legten wir zwei alte Matratzen ins Gästezimmer und trugen meine Mutter dorthin. Und jetzt setzte der Frost ein – in der Wohnung herrschte eine Temperatur von minus 5 Grad. Wir packten meine Mutter in drei Decken ein und legten Flaschen mit heißem Wasser um sie herum. Fast drei Wochen hat sie so dagelegen.

Meine sechzehnjährige Tochter schickten wir mit Nachbarn ins Stadtzentrum, wir dachten, es sei dort sicherer. Aber wir hatten keine Verbindung und ich machte mir Vorwürfe, weil ich das Kind weggeschickt hatte.

Meine Mutter wäre beinahe lebendig verbrannt

Als eine Granate in die Pumpstation fiel und im gesamten Umfeld in den Höfen die Fenster und die Zimmertüren barsten, bebte das Haus so stark, dass wir zu Tode erschraken. Wir konnten schon nicht mehr in der Wohnung schlafen und ich ging mit meinem Mann in den Keller hinunter.

Dann zogen wir in einen anderen Keller um – in einer Bankfiliale. Wir liefen weiterhin zur Zentrale, schon unter Beschuss schleppten wir Wasser herbei und kümmerten uns um meine Mutter. Irgendwo kracht es, aber egal, schnell, schnell, die Wohnungen werden gelöscht, zum Glück haben sie das Regenwasser gesammelt – eine ganze Wanne voll. Als in unserem Eingang ein Treffer landete, lief ein Nachbar in seine Wohnung in der neunten Etage um zu löschen, aber dort hatte sich eine Öffnung gebildet…

Das Feuer verbreitete sich durch alle Steigrohre; Ich weine – meine Mutter wird bei lebendigem Leibe verbrennen. Doch eine Nachbarin sagt zu mir: „Was weinst du – geht, lasst das Feuer nicht heran!“ Ich schaue, da läuft mein Mann mit einer Axt, er begann zu hacken –alles, was brennen konnte, wurde hinuntergeworfen. Ich kleidete das Zimmer mit nassen Lappen aus und machte eine Spritze aus einer Flasche. Doch über unserer Wohnung brannte alles…

Irinas Wohnkomplex
Foto mit freundlicher Genehmigung von Irina Poljuschkina
Irinas Wohnung

Foto mit freundlicher Genehmigung von Irina Poljuschkina
Nach acht Tagen unter Bombardierungen gingen wir, um unsere Tochter zu holen – wir wussten schon, wo sie war. Wir gingen unter Bombenabwurf, aber wir erreichten unser Ziel – unsere Tochter war dünn, blass und hungrig. Bei den Nachbarn war schon der kleine Enkel zu Tode gekommen und die Schwiegertochter hatten sie in sehr schlechtem Zustand ins Krankenhaus gebracht. Vor Anas Augen waren acht Menschen umgekommen. Sie war wie durch ein Wunder unversehrt geblieben, ein bekannter Junge hatte sie am Hauseingang einen Augenblick aufgehalten, um mit ihr zu sprechen… In diesem Moment fiel die Bombe. Sie erlitt Prellungen, aber überlebte, Gott sei Dank. Der Vorbau zum Eingang hat sie gerettet. Doch dann begrub der Nachbar sein Söhnchen mit abgerissenem Arm im Hof – sie war gegangen, um mit diesem Tema zu spielen – er war vier Jahre alt.

Wir nahmen sie und ein benachbartes Kind mit – auf dem Rückweg lagen wir mehr, als dass wir gingen. Wir befanden uns in der Schusslinie – das wurde uns klar, weil wir ukrainische Soldaten sahen, wir lagen bei ihnen im Schützengraben. Dann huschten wir in kleinen Sprüngen zur Parallelstraße, wir dachten, da würde es ruhiger sein. Aber dort waren schon die Russen. Ich war nicht einmal ganz drüben, da drehe ich den Kopf und erblicke einen Panzer mit dem Buchstaben Z. Wir eilten schnell nach Hause – brachten die Kinder relativ sicher unter, obwohl ich eine leichte Prellung abbekommen hatte.

Anstelle eines Kerzenhalters benutzten wir einen Chanukkaleuchter

Als wir meine Mutter auf Matratzen legten, hatte mein Mann ihr Sofa aufgeschraubt und wir trugen die beiden Hälften in den Keller. Nachbarn brachten noch eine Matratze und Kissen – so schliefen wir dann. In Pullovern, darüber eine Jacke mit Kapuze, eine Weste, eine Mütze und drei Hosen. Wir hüllten uns in Decken ein. Wir trennten die Räume mit Decken ab und lebten so. Aus der benachbarten Schule wurden Tische und Bänke gebracht, wir kochten auf Kohlebecken, Ziegelsteinen und Schlackensteinen – wie es gerade kam.

Meine Mutter benötigte um sieben Uhr abends eine Insulinspritze und Essen – und mein Mann und ich liefen nach Hause. Statt eines Kerzenleuchters nahmen wir einen Channukaleuchter, was sich als sehr praktisch erwies. Wir wechselten die Pampers, gaben das Essen und spritzten das Insulin – alles sehr eilig – wir fürchteten, dass ein Scharfschütze das Licht sieht und schießt.

Irina mit ihrer Mutter
Foto mit freundlicher Genehmigung von Irina Poljuschkina
Die Schwiegermutter und der Bruder meines Mannes waren tot. Sie sandten uns ein Video – ein Durcheinander aus Metall und Schlackenblöcken
Wir lebten ziemlich freundschaftlich miteinander – wenn das Kohlebecken ausging und ich nur Tee wärmen wollte, rief ich alle – kommt, warum Brennholz umsonst verbrauchen. Die Männer schlossen sich zusammen, mal hackten sie gemeinsam Holz, mal gingen sie Wasser holen. Wir waren Nachbarn, die sich panisch davor fürchteten, den Kopf in den Hof hinauszustecken, wir teilten mit ihnen, luden sie ein. Einer hatte zwei Kinder – das ältere ging in die zweite Klasse, aber das kleine war erst anderthalb Jahre alt. Wie soll man da nicht helfen. Das letzte Mal gingen wir in die „Metro“ extra wegen Milch für das Kindchen. Nebenan war ein Mann – er konnte schlecht gehen. Wir gaben ihm auch zu essen, man kann keinen Menschen verhungern lassen, wir brachten ihm mal eine Suppe, mal Leber, mal etwas Anderes. Als wir wegfuhren, haben wir alle Lebensmittel für die Nachbarn dagelassen.

Wir schlugen dem Bruder meines Mannes vor, mit seiner Familie zu uns zu kommen, aber sie wollten nicht. Stattdessen zogen sie von ihrer Wohnung in einen zweistöckigen Bootsunterstellplatz am Meer – entschlossen, dort auszuharren. Das war eine Miniwohnung in der zweiten Etage – mit kleinem Sofa usw. Von meiner Schwägerin weiß ich, dass sie in der zweiten Etage Tee tranken und sie nach unten ging, um Honig zu holen und da landete ein Treffer – sie überlebte, nur ihre Beine versagten. Sie kroch irgendwie zu ihren Verwandten am anderen Ende des Stadtviertels. Aber die Schwiegermutter und der Bruder meines Mannes waren tot. Sie sandten uns ein Video – ein Durcheinander aus Metall und Schlackenblöcken. Dort sollen viele Menschen umgekommen sein. Übrigens sind auch ihre Wohnungen verbrannt. Mit der Schwägerin gab es keinen Kontakt mehr, offenbar ist etwas mit ihrem Kopf, sie verhält sich seltsam… Übrigens erfuhren wir von den Todesfällen von unserem Sohn – über Israel wurden wir informiert, was am anderen Ende unserer Stadt passierte.

Wie sie mich einmal fast in die Reinigungsabteilung gebracht hätten

Ja, und in unser Hofgelände gab es viele Flugattacken und Häuser wurden getroffen. Einige Nachbarn schlossen die Großmutter in der Wohnung ein und gingen selbst mit ihrem Kind in den Luftschutzbunker. Im Allgemeinen schlug es zwischen der 8. und 9. Etage ein und sie verbrannte. Viele alte Menschen starben durch Herzanfälle. Man musste im Hofgelände die Verstorbenen begraben. Einen Nachbarn legten wir in einen Bombentrichter und ich half ihn zu bestatten.

Hinter uns brannten auch Häuser – rundherum war nichts außer Flammen. Man sagt, dass es jetzt dort übel rieche –eine Granate war eingeschlagen, ein Mensch war irgendwo verschüttet, der Körper war nicht verbrannt und zersetzte sich.

Verstecken Sie nicht etwa einen Soldaten der Streitkräfte der Ukraine?“ „Ja, da“, sage ich, „liegt ein Soldat“, ich zeige auf meine Mutter, „nehmen Sie ihn mit. Können Sie, nach allem was Sie mit uns gemacht haben, noch ruhig schlafen?“
Einmal führten Russen vor unseren Augen einige zwanzigjährige Jungen aus einem Keller, es waren Soldaten der Streitkräfte der Ukraine, sie waren in Zivil und hatten sich von der Kolonne entfernt. Auf meine Frage, was weiter sein würde, antworteten sie: wahrscheinlich würden sie erschossen. Ich weiß nur, dass die Jungen aus Winniza kamen, die Namen nannten sie nicht, sie hatten Angst, die Telefonnummern ihrer Mütter zu geben – ich wollte ihre Mütter anrufen. Aber sie riskierten es nicht, man weiß ja nie…

Ein anderes Mal brachten sie mich fast zur Durchsuchung. Ich komme nach Hause und höre – draußen bringen sie deinen Mann weg. Ich sehe, wie mein Mann mit einem russischen Soldaten zum Eingang geht. Ich renne hinterher. Kurz und gut, sie sind in die Wohnung hochgestiegen und ich frage, was sie eigentlich suchen. „Verstecken Sie nicht etwa einen Soldaten der Streitkräfte der Ukraine?“ „Ja, da“, sage ich, „liegt ein Soldat“, ich zeige auf meine Mutter, „nehmen Sie ihn mit. Können Sie, nach allem was Sie mit uns gemacht haben, noch ruhig schlafen?“ „Sie sind sehr gesprächig“, warf er mir an den Kopf, „jetzt gleich werde ich Sie zum Stab mitnehmen.“ „Machen Sie das“, sage ich, „Sie können mich auch erschießen, ich habe die Schnauze voll von euch.“ Na, er mäßigte sich etwas, er fragte, wo ich arbeitete. „Ich bin Mathematiklehrerin“, sage ich.
„Und in welcher Sprache unterrichten Sie?“
„In der amtlichen, natürlich.“
„Na, da sehen Sie es, nicht auf Russisch.“
„Warten Sie mal, warum sollte ich auf Russisch unterrichten, wenn ich in der Ukraine lebe? Wenn die Kinder auf Russisch antworten, hat sie niemand deswegen unter Druck gesetzt.“
Er wieder auf seine Weise: Donezk hat es acht Jahre ausgehalten und ihr stöhnt schon nach drei Wochen.“
„Donezk ist meine zweite Heimat, Ich habe dort an der Universität studiert, dort lebt eine Freundin von mir und man muss mir nicht erzählen, dass sie so beschossen wurden wie Mariupol. Was ihr mit uns macht – das ist einfach… Und er (ich zeige auf meinen Mann) hat seine Mutter und seinen Bruder verloren. Und warum das?" Er ging schweigend hinaus.

Mein Sohn rief unseren Rabbiner aus Israel an und teilte ihm mit, wo wir uns befinden

Am selben Tag ging ich an einer zerbombten Apotheke vorbei – ich wusste, dass dort eine Toilette war, und ging hin. Die Tür war mit einem Stein versperrt. Da sehe ich mit Wasser gefüllte Flaschen stehen. Ich nahm eine. Und sofort kam ein Soldat der Volksrepublik Donezk mit einer Maschinenpistole auf mich zu: „Du Hündin und Diebin, stell sie hin!“ Und wie er sich entfernen wollte, sage ich: „Hör mal, mein Lieber. Ich bin also eine Hündin und Diebin, in wessen Land? Ich habe in Quarantäne Fernunterricht gegeben, ich habe eine Universitätsausbildung und was bist du für einer? Du bist zu uns gekommen, nicht ich zu dir. Also habt ihr aus uns Hunde und Diebe gemacht und Plünderer und Feuerwehrleute.“ Und er: „Ihr hättet überlegen müssen, wen ihr wählt! Meine Schwester sagt: „Im Allgemeinen lebten wir in unserem eigenen Land, den wir wollten, für den haben wir gestimmt. Auf welcher Seite bist du hier?“

Irina mit ihrem Mann

Foto mit freundlicher Genehmigung von Irina Poljuschkina
Wenn ich ehrlich bin, so schien es mir früher unnötig, dass sich die Ukraine mit Russland verfeindete. Aber ich dachte nicht, dass es soweit kommen würde. Auch die Nachbarn sind schockiert. Gestern sprach ich telefonisch mit einem – „Schufte“, sagte er, „sie haben uns auf die Stufe von Schweinen erniedrigt.“ Seine Wohnung war ausgebrannt, wo sollte er hin? Die Leute haben Angst, dass ihnen ihr Auto weggenommen wird, fürchten, ein Leben bei null in einem fremden Land anzufangen. Ehrlich gesagt, wenn sie nicht uns holen gekommen wären, hätte ich meine Mutter nicht verlassen, wir wären dort geblieben.

Wir hatten Glück, dass wir Verbindung hatten. Burschen aus dem Nachbarhaus besorgten einen Generator, bekamen von irgendwoher Benzin und ließen die Mieter der benachbarten Häuser alle drei Tage ihre Telefone aufladen.

Mein Mann hat es geschafft, einen Platz in der Innenstadt zu erwischen – er konnte meinen Sohn in Haifa anrufen. Es gelang ihm zu sagen, dass er eine Möglichkeit findet, uns herauszuholen. Da brach die Verbindung ab und am nächsten Tag kamen sie zu uns – unser Sohn hatte unseren Rabbi angerufen und ihm mitgeteilt, wo wir waren. Wir waren direkt in den Keller gegangen – macht euch fertig für Israel. Nun, wir haben schnell alles dagelassen, mit Hilfe von Nachbarn trug mein Mann meine Mutter auf einer Bettdecke zusammen mit der Matratze heraus, meine Schwester war auch da mit ihrem Mann, der drei Splitterverletzungen im Bein hatte. Das war am 23.März. Wir wussten nicht einmal, wie sie uns transportieren würden, aber es war sicher durch Russland, weil die Russen schon seit drei Tagen in der Stadt waren.

Auf der Krim bekam meine Mutter eine Infektion, von der sie sich nicht mehr erholte

Fast an jedem Kontrollposten musste mein Mann sich ausziehen, mal trödelten sie mit dem Telefon herum, mal suchten sie nach Tätowierungen. Wir kamen zu einer Pension hinter Melekino und am folgenden Tag mussten wir um fünf Uhr morgens aufstehen –wir fahren zur Krim. Wir gaben meiner Mutter zu essen, zogen sie um und verfrachteten sie – und vorwärts.

Sie war für uns so etwas wie ein Passierschein – der Freiwillige überholte die Menschenschlange und zeigte einen Kranken, der sterben konnte. Und das stimmte auch, wenn man ihm nicht rechtzeitig zu essen gab – sie war ja insulinpflichtig. Im weiteren Verlauf wurde sie mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus nach Sewastopol gefahren und uns brachten sie in das Gebiet von Simferopol in ein kleines Hotel. Natürlich wurde meine Mutter schlecht behandelt, sie erlitt eine Infektion, die auch der hauptsächliche Grund für ihren Tod wurde – die israelischen Antibiotika konnten dieser Infektion nicht Herr werden.

Von der Krim flogen wir nach Mineralnyje Wody, meine Mutter und ich ins Krankenhaus, die Anderen in ein Hotel, von dort in der Nacht nach Kasachstan, dort tankten wir auf und flogen nach Tiflis. Man wollte sie nicht an Bord nehmen, sie lag quer über dem Stuhl, nicht angeschnallt. Bei der Landung hielten mein Mann und ich sie fest. Irgendwie kamen wir ans Ziel, aber der tschechische Pilot – ein Schiffskommandant – weigerte sich kategorisch mit einer solchen Passagierin nach Israel zu fliegen. Kurz gesagt, sie ließen uns in Tiflis. Und jetzt begann ich hysterisch zu werden – zum ersten Mal während des gesamten Krieges weinte ich den ganzen Tag. Meine Mutter wurde auf die Intensivstation gelegt und ich kam bei einem Freund eines Vetters unter.

Meine Tochter erinnert sich bis heute an das Gesicht von Temotschka. Tema wurde der Arm abgerissen aber er starb von der Druckwelle – er wurde umgeworfen und schlug mit dem Kopf auf den Boden
In Israel verbrachte meine Mutter drei Wochen in „Ichilow“ (Krankenhaus), anschließend in Bejt-awote (israelisches Altenheim) und dann ging sie von uns. Aber wir konnten sie wenigstens menschlich bestatten und nicht in einem Hof vergraben. Arme Mama, diesen Krieg hast du überlebt, den Holocaust, aber jetzt…

Und wir? Wir nahmen eine Wohnung in Haifa, manchmal ist es schwer, eine andere Mentalität, Bürokratie, wir beherrschen die Sprache nicht und haben Heimweh nach Zuhause. Früher hielten wir nichts Schwereres als Federhalter in den Händen, aber hier müssen wir nachts in einem Lagerraum Waren zählen – es ist nicht die schwerste Arbeit, aber ein moralisches Unbehagen, doch was soll´s.

Als meine Tochter hörte, wie in der Klasse ein Luftballon platzte, fiel sie zu Boden


Ab und zu spreche ich mit einem Vetter aus Petersburg. Einerseits beklagte er sich nicht über seine Obrigkeit, andererseits meint er, ich solle nach Mariupol zurückkehren und für meine Wohnung eine Entschädigung erhalten. Ich schimpfe selten unflätig, aber als er das sagte, hörte ganz Haifa wie ich fluchte. Meine Nerven gingen mir einfach durch bei einem solchen unsinnigen Vorschlag. Dabei leben seine Schwiegereltern in Mariupol – er müsste die Situation verstehen.

Ich will nichts von den Russen. Wenn sie irgendwann offiziell Entschädigungen geben – von den gesperrten Konten der russischen Oligarchen zum Beispiel, dann nehme ich sie mit Vergnügen.

Ich verkehre hier mit Repatriierten aus Russland – grundsätzlich gingen sie, weil sie das Regime hassten. Aber es gibt auch andere Fälle. Gestern schlossen sich uns an einer Haltestelle zwei alte Frauen an. Kommen Sie aus der Ukraine? Ja. Und woher? Aus Mariupol. Und als sie zu uns kamen: „Tun Ihnen die Soldaten nicht leid?“ „Sie sind in unser Land gekommen, warum sollte ich Mitleid mit ihnen haben?“ Und mein Mann antwortet: „Und tun Ihnen nicht meine Mutter und mein Bruder leid, die ganz umsonst gestorben sind? Sie kämpfen gegen den Faschismus… In unserem Land!“ Aber das sind seltene Exemplare. Normalerweise bringen die Menschen, wenn sie erfahren, woher wir kommen, alles, was sie können – sogar Betten haben sie uns gegeben, und Kleidung und Geschirr.

Anja ging hier zur Schule und ein Bursche brachte einen Luftballon in die Klasse – er wollte ihn über dem Ohr eines Freundes platzen lassen. Als sie den Knall hörte, schrie sie und ein anderer Junge aus Mariupol, sie gehen gemeinsam in den Ulpan (Hebräisch kurse), schrie nicht, aber beide ließen sich auf den Boden fallen. Der Spaßvogel hat sich dann zwar lange entschuldigt – er hatte sie nicht beachtet…

Meine Tochter erinnert sich bis heute an das Gesicht von Temotschka. Seine Mutter kannte ich von Kind an, wir wuchsen in einem Hofgelände auf, sie war beinahe gleich alt wie mein Sohn und starb im Krankenhaus. Tema wurde der Arm abgerissen aber er starb von der Druckwelle – er wurde umgeworfen und schlug mit dem Kopf auf den Boden. Und seine Mutter erlitt außer Splitterverletzungen ein Schädel-Hirn-Trauma. Sie konnte nicht abtransportiert werden – ihr Auto war defekt. Und ein weiteres kleines Mädchen starb mit seiner Mutter – Sie hatten dort zusammen gespielt… Und Anja erinnert sich an all diese Menschen…

Ja und auch ich begann mich vor dem Schlagen von Türen und lauten Schreien zu fürchten – im Autobus, wenn das Gerede laut wird, zieht sich in mir alles zusammen. So sieht es mit uns aus.

Die Zeugenaussage wurde am 8. Juni 2022 aufgezeichnet

Übersetzung: Dr. Dorothea Kollenbach