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Tschernihiw
In der Ukraine gibt es keine Stadt, in der das Putin-Russland so gehasst wird wie in Tschernihiw
Irina Lipkina, Direktorin des „Chesed-Ester“
Irina Lipkina
Diesen Krieg habe ich nicht erwartet und zu allen gesagt, er würde nicht kommen. Ich habe Verwandte in Russland, ich absolvierte das Leningrader Finanzökonomische Institut… Niemals habe ich gedacht, dass das in unserer Zeit möglich sei, aber plötzlich wurde Tschernihiw bombardiert und plötzlich begann der Beschuss. Ich richtete mir einen Platz im Badezimmer ein, um dort während des Alarms zu sitzen und nicht in den Keller zu gehen – das war kein Bombenschutzraum, dort war es auch gefährlich.

Ich sah ein Flugzeug über mir und ließ mich mit dem Gesicht in den Schmutz fallen

Mein Haus befand sich nicht weit vom Fernsehturm entfernt – unseren Bereich bombardierten sie stark, die Fenster auf dem Balkon flogen heraus. Und das ist noch gar nichts, im sechzehnten Quartal nebenan war es noch viel schlimmer, ein Haus war überhaupt nicht mehr bewohnbar, der Kindergarten war zur Hälfte zerstört und in den nahegelegenen Häusern gingen die Fenster zu Bruch. Unseren Fernsehturm haben sie übrigens nicht getroffen.

Hotel "Ukraine" nach der Bombardierung
Nachts habe ich praktisch nicht geschlafen, ich ging wie ein Zombie umher. Am 3. März brachte ich Müll nach draußen und denke, ich gehe in ein Geschäft – ich habe am 4. März Geburtstag, ich muss etwas kaufen und Leute bewirten. Aber wen – es wird niemand zu Besuch kommen. Und im Keller sitzen von Leid gezeichnete Menschen. So beschloss ich, den Geburtstag im Keller zu begehen. Ich kaufte ein, aber es gab nur noch teure Sachen – wie zum Beispiel roten Fisch, aber ich nahm, was da war. Ich komme aus dem Geschäft und höre Alarm. Nun, hier will ich nicht abwarten. Ich gehe am Zaun des Krankenhauses entlang, höre ein Dröhnen, hebe den Kopf – direkt über mir ein Flugzeug. Können Sie sich das vorstellen? Ganz niedrig. Ich drücke mich an den Zaun und ganz nah ist ein kleiner Baum – ich stehe da und überlege, ist es richtig unter dem Baum zu stehen, ich erinnere mich, was man uns gelehrt hat.

Dann sehe ich, dass das Flugzeug sich in eine andere Richtung dreht, und überlege – bis nach Hause ist es nicht weit, ich werde hingehen. Ich machte zehn Schritte und hörte eine Explosion – intuitiv warf ich mich vom Asphalt auf ein Beet am Städtischen Gesundheitsamt. Ich fiel auf den Bauch mit dem Gesicht in den Schmutz. Zum Glück nicht auf den Asphalt…

Ich liege da und sinniere – lebe ich oder lebe ich nicht, kehrt das Flugzeug zurück und bombardiert noch einmal. Dann hebe ich den Kopf – noch nie habe ich solche Angst gespürt. Ich schaue, aus der Apotheke kommen Leute und zeigen auf eine große Rauchsäule. Ich stand sofort auf, begann meine Habseligkeiten aufzusammeln, ich frage mich, wohin sie gefallen sind – an die Bluttransfusionsstelle des Krankenhauses oder an das Haus meiner Freundin. Dann wird mir klar, dass in dem sechzehnstöckigen Haus 47 Menschen umgekommen sind.
Die Männer diskutieren, aber ich ging nach Hause. An der Treppe stehen die Nachbarn der ersten Etage, eine Frau ist vollkommen hysterisch – ihr Mann gibt ihr Beruhigungsmittel – sie helfen nicht. Sie kamen aus einem anderen Geschäft, über ihnen war dasselbe Flugzeug geflogen und sie waren ebenso hingefallen.

Da heult die Sirene, ich sage: „Los, in den Keller runter.“ Ich selbst wohne in der vierten Etage – mir fehlte die Kraft, um nach oben zu gehen. Im Keller befanden sich schon viele Menschen und alle waren deprimiert. Und da kommen wir ganz schmutzig und schütteln die Erde ab… Nein, denke ich, ich muss den Geburtstag noch feiern, wieder zu mir kommen.

Die Folgen eines Luftangriffs auf ein Wohngebiet, 3. März 2022
Es gelang mir, Kleidung zum Wechseln und ein Foto meiner Großmutter aus dem Jahre 1916 mitzunehmen

Am nächsten Tag stand ich um sechs Uhr morgens auf. Solange kein Alarm gegeben wurde, machte ich Butterbrote, kochte Kompott aus Trockenfrüchten, fand eine Schachtel Pralinen, Kognak und Wein – packte alles zusammen, bedeckte es mit einem großen bestickten ukrainischen Tuch und gehe in den Keller: gratuliert mir, wir werden jetzt feiern. Bei uns im Keller stand ein niedriges Gestell – während der Reparaturarbeiten wurde es von einer Wohnung in die andere geschleppt. Ich bedeckte es mit dem Tuch und breitete meine Butterbrote darauf aus. Alle wurden irgendwie fröhlich, als sei kein Krieg, und die Butterbrote waren so prima. Und es entstand eine gewisse Hoffnung, dass sich alles zum Besseren wenden würde.
Aber die Angst, die sich in meiner Seele eingenistet hatte, als ich im Schmutz lag, blieb bestehen und als ich am 10. März von Joint (American Jewish Joint Distribution Committee) angerufen wurde und man mir mitteilte, dass die Mitarbeiter von Chesed und die Mitglieder der Gemeinde evakuiert werden sollten, beschloss ich mitzufahren. Sie begannen Listen zu erstellen, anrufen konnten wir nicht, denn es gab keine Verbindung, und unter Beschuss zu gehen, war schrecklich – so gingen die Mitteilungen von Mund zu Mund.

Die Leute aus der Synagoge kamen hinzu – insgesamt waren wir 165 Personen. Die Autobusse mussten von Chesed abfahren. Viele kamen mit Tieren – wie kann man sie zurücklassen, sind sie doch fast Familienmitglieder, auch ich hatte eine Katze. Wie ich sehe, sind es 300 Menschen – nicht weniger. Viele waren nicht auf den Listen, aber die Menschen eilten herbei und nahmen schnell alle Plätze ein, unter ihnen auch Personen, die keinerlei Beziehung zur Gemeinde hatten. Nun, wir werden uns nicht mit ihnen schlagen… Aber die Schützlinge von Chesed stehen. Das war die erste Massen-Evakuierung aus Tschernihiw – herauszukommen war schon beinahe unmöglich, die Stadt war praktisch eingeschlossen.

Schule Nr. 18 in Tschernihiw nach dem Bombenanschlag vom 3. März 2022
Die Fahrer sagen, wenn wir jetzt nicht starten, werden wir überhaupt nicht herauskommen, uns erwarte ein Konvoi. Es ist bitter, die zu sehen, die bleiben – einfach schrecklich.
Es durfte nur ein Minimum an Sachen mitgenommen werden – ein kleines Köfferchen, maximal einen Käfig mit einem Tier, den man auf dem Schoß halten musste. Weil jeder große Koffer den Platz eines Menschen einnehmen würde. Deshalb verließen wir Tschernihiw praktisch ohne Sachen. Mir gelang es, Kleidung zum Wechseln und alte Fotos meiner Großmutter aus dem Jahre 1916 mitzunehmen – die Erinnerung an den Stammbaum soll doch bewahrt bleiben.

Die Fahrer sagen, wenn wir jetzt nicht starten, werden wir überhaupt nicht herauskommen, uns erwarte ein Konvoi. Es ist bitter, die zu sehen, die bleiben – einfach schrecklich. Wir fuhren durch Dörfer in der Umgebung bis Kiew in 6 Stunden. Dann erwies es sich, dass wir großes Glück gehabt hatten. Wir kamen an und dort war Beleuchtung – wir konnten es gar nicht begreifen, es war, als seien wir aus dem Krieg in eine friedliche Zeit gekommen. Man brachte uns in die Brodsky Synagoge, gab uns zu essen und quartierte uns dann in einem Hotel ein, das für 80 Menschen ausgelegt war, aber wir waren 200 – die Menschen lagen in den Fluren und saßen auf den Treppenstufen.
Aber wir waren wenigstens nicht auf der Straße, konnten uns waschen, am Morgen bekamen wir Essen in der Synagoge, saßen in den Bussen – Typen mit Maschinengewehren standen dort und alle gingen nach der Liste.

Erst nach einem Monat in Israel begann ich nachts zu schlafen

Am Tag fuhren wir ab, nachts standen wir an der Grenze. Für die Alten war es sehr schwer, aber alle verstanden, dass wir uns in Sicherheit bringen. Um sechs Uhr morgens kamen wir nach Kischinew, erhielten Essen und wurden eingeteilt – die einen nach Israel, die anderen nach Europa.

Die Moldauer verhielten sich uns gegenüber sehr mitfühlend, allerdings bemerkte der Fahrer einmal: „Dass ihr euch mit Russland streitet – ihr seid doch alle gleich.“ „Das scheint Ihnen so“, sage ich.

Wir stellten uns auf einem Campingplatz auf, das ist normal. Aber wir warteten sehr lange auf den Konsul. Obwohl man sagte, das sei nicht lange – etwas länger als eine Woche.

Shlomi, Israel
In Israel bereitete man uns einen warmen Empfang – es waren sehr viele Flüchtlinge und dass ein so kleines Land so viele Menschen aufnimmt, will einem nicht in den Kopf. Und was mich sehr erstaunte – die riesige Menge von Freiwilligen, die Leute brachten dauernd Kleidung, Schuhe, Kinderspielzeug und fragten, was wir brauchten.

In der Nähe befindet sich die bemerkenswerte Stadt Schlomi – dort gibt es ein Volkstheater und wir wurden zu einer Aufführung eingeladen. Ein Bus kam und Plätze waren für uns reserviert. Die Einheimischen hatten Stehplätze, aber wir alle konnten sitzen. Zum Pessach-Fest wurden wir von Kibbuzim eingeladen.

Zur Zeit wohne ich im Hotel „Goren“ – das ist nicht weit von Nagarin entfernt. In der ersten Zeit hatte ich besonders Angst vor dem Einschlafen, weil ich Albträume hatte. Ich saß da wie ein Zombie. Ich denke, jetzt schlafe ich ein und werde wieder im Schlaf schreien. Ich träumte schreckliche Sachen – von Russen in deutschen Uniformen, die töten und vor denen man flüchtet. Erst nach einem Monat in Israel begann ich zu schlafen und das heißt in Wirklichkeit – drei Stunden pro Nacht – und das ist schon viel.

Sie haben sogar die Datschen-Siedlungen bombardiert und was sie mit dem Friedhof in Tschernigow machten, ist einfach schrecklich. Am 27., dem Todestag meiner Großmutter, erfuhr ich, dass der Friedhof zerstört sei. Ich rief meine Verwandten an und sagte ihnen, sie sollten doch nachsehen, ob der Gedenkstein heil geblieben sei. Aber sie konnten nicht dorthin gehen – der Friedhof war vermint. Dort hatten sie die Kirche des Moskauer Patriarchen und die daneben liegenden Gräber der Veteranen des Krieges in Afghanistan zerstört. Dreitausend Grabsteine waren vernichtet – sie kämpfen nicht nur mit den Lebenden sondern auch mit den Toten. Sie trafen auch das Verwaltungsgebäude des Krankenhauses, obwohl dort russische Kriegsgefangene behandelt wurden.

Der Deutsche hatte Mitleid, aber die Russen töteten

Auch in der jüdischen Gemeinde gab es Opfer. Unter den Mitgliedern unseres Chesed war Viktor Petrowitsch Bytschok – seine Mutter war Jüdin. Während der Kriegsjahre wurde sie in Dörfern versteckt, während die Kinder, unter ihnen auch der sechsjährige Witja, bei ihrer ukrainischen Großmutter lebten. In ihrer Nachbarschaft wohnte ein deutscher Major, der wusste, dass diese Flüchtlingskinder Juden waren. Der Krieg endete und Witja und sein Bruder Wolodja blieben am Leben.

Aber jetzt gerieten Viktor Petrowitsch und seine Frau unter Beschuss – der Frau gelang es, sich auf die Erde zu werfen, aber er starb… Der Deutsche hatte Mitleid gehabt, aber die Russen töteten ihn. Am Vorabend des Holocaust-Tages hatte Bytschek ein Interview im Örtlichen Fernsehen gegeben und über jene schrecklichen Ereignisse gesprochen und dann hatten wir ein Treffen am Massengrab der erschossenen Juden und er kam mit seinem Sohn – alle hielten Reden, aber er sagte: „Ich kann nicht mehr. Es reicht.“ Er war ein ungewöhnlich kluger, guter und rechtschaffener Mann.

Ich habe in Tschernihiw eine Verwandte, deren Sohn in Moskau lebt – ein ehemaliger Soldat, Oberstleutnant. Und während der ganzen Zeit hat er nicht einmal angerufen, wusste nicht, wie es seiner Mutter ging, ob sie noch lebte oder nicht.
In St. Petersburg lebt eine Kusine zweiten Grades von mir, eine sehr kluge Frau. Und da erhält sie einen Anruf ihrer Schwester aus Jerusalem, die ihr sagt: „Tschernihiw wird bombardiert und Ira kann jeden Augenblick sterben.“ Und wisst ihr, was sie ihr antwortet: „Nun, dann soll sie zu mir kommen. Die Flugzeuge fliegen doch…“ Versteht ihr, die Leute sind vom Geschehen so weit entfernt.
Und noch etwas hat mich in Erstaunen versetzt. Ich habe in Tschernihiw eine Verwandte, deren Sohn in Moskau lebt – ein ehemaliger Soldat, Oberstleutnant. Und während der ganzen Zeit hat er nicht einmal angerufen, wusste nicht, wie es seiner Mutter ging, ob sie noch lebte oder nicht.

Ein in Russland lebender Vetter zweiten Grades hatte mir schon vor Kriegsbeginn von den schrecklichen Bandera-Anhängern erzählt. Er hat nicht einmal angerufen. Stellen Sie sich vor, wie schrecklich das alles ist. Die Leute verstehen nicht, was da vor sich geht, wer wen tötet.

Wir haben eine außergewöhnlich schöne Stadt und einen wunderbaren Bürgermeister, der all seine Kräfte auf ihre Verteidigung konzentriert. Ich sage allen – es gibt in der Ukraine keine Stadt, in der das Putin-Russland mehr gehasst wird als in Tschernihiw. Unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit.

Viele änderten ihre Gesinnung, aber wie kann es anders sein, wenn man dich bombardiert? Die Russen sind gekommen, um Menschen zu töten, die ihnen nichts Böses zugefügt haben. Und unsere Stadt ist multinational – Belarussen, Armenier, Georgier und Roma leben hier. Ich weiß, dass die belarussische Gemeinde mit Lukaschenko sympathisierte. Und wie ist ihnen unter den Bombardierungen zumute? Sie gingen vom belarussischen Territorium aus. Ist ihnen Lukaschenko noch ebenso sympathisch?

Es gibt Russen, die sich überhaupt nicht nach Russland, sondern nach Europa oder in die Westukraine abgesetzt haben. Irgendwie kam niemandem in den Sinn, in Russland Rettung zu suchen.

Die Zeugenaussage wurde am 18. April 2022 aufgezeichnet

Übersetzung: Dr. Dorothea Kollenbach