Am Morgen gingen wir hinaus, um uns umzusehen und nach den Nachbarn zu rufen. Solche Rufe nach den Bombardierungen waren sehr wichtig – wir versuchten wenigstens einander zuzuwinken, zu sagen, dass wir überlebt hatten. Aber da sahen wir, dass aus einem Hof eine Blutbahn floss und erstarrte.
Als Witalij noch einmal mit dem Fahrrad losfuhr, um Vorräte aus unserem zerstörten Haus zu holen, waren die Russen schon nebenan. Er betrat das Tor, sie richteten das Maschinengewehr auf ihn und fragten, warum er hier herumlaufe. Er sagte zu ihnen: „Jungs, ich will nur Essen holen, bei mir sind alte Leute, ich muss ihnen zu essen geben.“ Sie sagten, also komm nicht wieder her, nimm schnell, was du brauchst, und hau ab. „Aber was macht ihr denn hier“, fragt er. „Ich wohne doch hier.“ „Wir sind auf Stellung“, antworten sie.
Am 12. April versuchten wir noch einmal ins Haus zu kommen – wir fuhren mit Fahrrädern auf dem Ufer-Boulevard. Das war die Mariupoler Straße des Lebens (Anspielung auf die gleichnamige Rettungsstraße während der Leningrader Blockade), auf ihr ging und fuhr man, hier und da lagen Leichen, sah man verstreute Sachen, Schuhe, Fressnäpfe für Hunde. Hier und da zurückgelassene tote Tiere, ein Käfig mit einem toten Papagei, ein Einmachglas mit einem toten Zwerghamster – offensichtlich retteten die Menschen das, was ihnen teuer war…
Näher an der Mitte des Boulevards wurde klar, dass die Russen unseren Bezirk schon gänzlich eingenommen hatten, sie haben sogar nach den Kämpfer des Azow-Bataillons gefragt, sie hatten schreckliche Angst vor ihnen… Wir fuhren weiter, aber über unseren Köpfen pfiffen Kugeln – wir mussten uns einfach auf den Boden werfen. Solchen Beschuss hatte es bisher nicht gegeben, zum Meer waren sie immer weniger geflogen, wozu es bombardieren. Und der Ufer-Boulevard läuft bei uns direkt an der Meeresküste.
Plötzlich sahen wir, dass aus der Richtung des Bahnhofs zwei Menschen angerannt kommen und schreien: „Wohin fahrt ihr? Dort hat man einen Großvater auf dem Rad erschossen!“ Das war der letzte Tropfen, der das Fass überlaufen ließ, wir kehrten um.
Am nächsten Tag erschienen die Russen bei uns, es gab schon Straßenkämpfe, eine Säuberung stand bevor und es war klar, dass wir flüchten mussten. Am 14. um 6 Uhr morgens fassten wir den endgültigen Beschluss, denn wenn wir alle umkamen, würde der Sohn seine gesamte Familie verlieren. Als wir abfuhren, zeigte das Thermometer im Auto 1Grad plus, doch bis dahin herrschte eine schreckliche Kälte, 10 Grad minus. Man konnte unmöglich im Keller sitzen, wir wussten nicht, wodurch wir zuerst sterben würden.
Sie fuhren, schrien und baten, sie nicht zu töten
Das Auto versteckten wir in einem Schuppen – es war ein Diesel und deshalb ein wahrer Leckerbissen. Die Volksrepublik-Donezk-Leute konfiszierten manchmal Autos. Außerdem war ausreichend Diesel da – im Gegensatz zu Benzin. Witalij entblößte seinen Oberkörper bis zum Gürtel und zeigte so, dass er nicht bewaffnet war.