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Mariupol
Durch Phosphorbomben geriet das in Brand, was nicht brennen kann
Inna Satoloka, Fremdenführerin
Innas Tante, eine Holocaust-Überlebende

Foto mit freundlicher Genehmigung von Inna Satoloka
Am 24. um 4 Uhr morgens wurde ich durch eine Explosion wach, ging ins Internet und sah, dass die Schläge die gesamte Ukraine umfassten. Kurz gesagt – ein Schock. Ich hatte nicht an ein derartiges Szenario geglaubt, aber seit 2014 war klar, dass im Falle eines Krieges Mariupol eines der ersten Ziele sein würde. Die Stadt ist als Hafen und Weg zur Krim von Bedeutung.

Am 25. kam ein Freund aus Kiew zu Besuch – Witalij, um mich und Mama aus Mariupol zu holen. Getrennt von uns wohnten meine 86jährige Tante, die den Holocaust überlebt hatte, mit ihrem 93jährigen Ehemann. Am 28. Februar holten wir sie zu uns in unser privates Haus im Zentrum der Stadt. Zu dieser Zeit war es bereits sehr schwierig, sie zu besuchen. Mariupol stand schon unter ständigem Beschuss, der gesamte Weg war aufgerissen und voller Bodentrichter von den Einschlägen, Drahtknäuel, Granatensplitter und falls das Auto beschädigt würde, hätten wir die letzte Chance für eine Evakuierung verpasst. Warum wir nicht sofort gefahren sind? Ich konnte meinen Sohn Mark nicht zurücklassen, der im Kombinat „Asow-Stahl“ arbeitete. Ich dachte, wenn wir in dieser Hölle lebten, würde der Herr uns irgendwie führen. (Mark verbrachte mehr als sechs Monate in russischer Gefangenschaft auf dem Territorium der sogenannten Donezk Republik und wurde kürzlich im Rahmen eines Austauschs freigelassen).

Inna vor dem nicht funktionierenden Heizkörper

Foto mit freundlicher Genehmigung von Inna Satoloka
Aber niemand konnte sich das Ausmaß der Katastrophe vorstellen, die die Stadt erwartete. Wir versteckten uns im Keller im Hof – es wäre auch im Keller des Hauses möglich gewesen, aber wir fürchteten, dass uns niemand ausgraben würde, wenn es einstürzte.

Das Jahr 2014 hat noch etwas gelehrt – im Haus blieben Graupen, Mehl, Zucker, Tee und ein kleiner Vorrat Wasser. Im Übrigen wurde all das gar nicht verwendet, weil wir am 18. März bombardiert wurden und fliehen mussten. Die Türen waren verklemmt und Witalij zog mich, meine Mama – sie war Rentnerin – und meine Tante mit ihrem Mann heraus.

So befanden wir uns im Bereich des Hafens – wir hatten dort Verwandte, aber wir waren vom Regen in die Traufe gefallen. Wasser schöpften wir aus irgendwelchen Quellen – es war beinahe ungeeignet als Trinkwasser, sehr bitter. Wir kochten es und ließen es dann etwas stehen, aber dennoch bekamen die älteren Leute Nierenprobleme.

Die Lebensmittel waren knapp, wir holten sie aus den zerstörten Häusern in der Nähe, einige Male kehrten wir, um Vorräte zu holen, in unser halb zerfallenes Haus zurück. Eine Dose Eintopf kostete 8oo Griwna, eine Stange Zigaretten 10000, ein Liter Benzin kostete bis 1000. Aber die Leute waren bereit, jeden Preis zu zahlen, um von Mariupol wegzukommen, und seien es nur 20 Kilometer.

Das Fernmeldewesen brach Anfang März fast überall zusammen, aber an einem Punkt in der Nähe des Krankenhauses kam man manchmal ins Internet. Doch als wir am 30. März zu der nächstfolgenden Kommunikationssitzung kamen, begann der Beschuss, der letzte Funkturm wurde beschädigt und - seitdem befanden wir uns in einer völligen Informationsblockade.

Auf der Strandpromenade lagen Leichen, verschiedenste Gegenstände, Schuhe, Fressnäpfe für Hunde

Am 8. April wurde durch einen direkten Treffer eines Minenwerfers unsere Unterkunft am Hafen zerstört. Wieder befreite uns Witalij und dann gingen wir einfach im Schachbrettmuster von Haus zu Haus – wo etwas heil geblieben war, dort blieben wir. Es wurde ununterbrochen geschossen. Artillerie, Flugmarschkörper, Minenwerfer, die Marineartillerie – wenn letztere schoss, dann herrschte große Angst. Aber unser Bereich wurde noch mit Phosphorbomben niedergebrannt. Einmal wurden wir nachts dadurch wach, dass es taghell war, und wir hatten schon vergessen, was dieses Licht bedeutete. Das Schauspiel erinnerte an einen Salutschuss, aber sehr schnell flogen Phosphorbomben auf uns herab, die kleinen Taschenlampen ähnelten. Sie fielen herab und um sie herum brannte das, was eigentlich nicht brennen kann. Einige Nachbarn versuchten zu löschen, aber vom Wasser wütete die Flamme noch stärker. In einer Stunde verbrannten viele Häuser.

Man konnte unmöglich im Keller sitzen, wir wussten nicht, wodurch wir zuerst sterben würden
Am Morgen gingen wir hinaus, um uns umzusehen und nach den Nachbarn zu rufen. Solche Rufe nach den Bombardierungen waren sehr wichtig – wir versuchten wenigstens einander zuzuwinken, zu sagen, dass wir überlebt hatten. Aber da sahen wir, dass aus einem Hof eine Blutbahn floss und erstarrte.
Als Witalij noch einmal mit dem Fahrrad losfuhr, um Vorräte aus unserem zerstörten Haus zu holen, waren die Russen schon nebenan. Er betrat das Tor, sie richteten das Maschinengewehr auf ihn und fragten, warum er hier herumlaufe. Er sagte zu ihnen: „Jungs, ich will nur Essen holen, bei mir sind alte Leute, ich muss ihnen zu essen geben.“ Sie sagten, also komm nicht wieder her, nimm schnell, was du brauchst, und hau ab. „Aber was macht ihr denn hier“, fragt er. „Ich wohne doch hier.“ „Wir sind auf Stellung“, antworten sie.

Am 12. April versuchten wir noch einmal ins Haus zu kommen – wir fuhren mit Fahrrädern auf dem Ufer-Boulevard. Das war die Mariupoler Straße des Lebens (Anspielung auf die gleichnamige Rettungsstraße während der Leningrader Blockade), auf ihr ging und fuhr man, hier und da lagen Leichen, sah man verstreute Sachen, Schuhe, Fressnäpfe für Hunde. Hier und da zurückgelassene tote Tiere, ein Käfig mit einem toten Papagei, ein Einmachglas mit einem toten Zwerghamster – offensichtlich retteten die Menschen das, was ihnen teuer war…

Näher an der Mitte des Boulevards wurde klar, dass die Russen unseren Bezirk schon gänzlich eingenommen hatten, sie haben sogar nach den Kämpfer des Azow-Bataillons gefragt, sie hatten schreckliche Angst vor ihnen… Wir fuhren weiter, aber über unseren Köpfen pfiffen Kugeln – wir mussten uns einfach auf den Boden werfen. Solchen Beschuss hatte es bisher nicht gegeben, zum Meer waren sie immer weniger geflogen, wozu es bombardieren. Und der Ufer-Boulevard läuft bei uns direkt an der Meeresküste.

Plötzlich sahen wir, dass aus der Richtung des Bahnhofs zwei Menschen angerannt kommen und schreien: „Wohin fahrt ihr? Dort hat man einen Großvater auf dem Rad erschossen!“ Das war der letzte Tropfen, der das Fass überlaufen ließ, wir kehrten um.

Am nächsten Tag erschienen die Russen bei uns, es gab schon Straßenkämpfe, eine Säuberung stand bevor und es war klar, dass wir flüchten mussten. Am 14. um 6 Uhr morgens fassten wir den endgültigen Beschluss, denn wenn wir alle umkamen, würde der Sohn seine gesamte Familie verlieren. Als wir abfuhren, zeigte das Thermometer im Auto 1Grad plus, doch bis dahin herrschte eine schreckliche Kälte, 10 Grad minus. Man konnte unmöglich im Keller sitzen, wir wussten nicht, wodurch wir zuerst sterben würden.

Sie fuhren, schrien und baten, sie nicht zu töten

Das Auto versteckten wir in einem Schuppen – es war ein Diesel und deshalb ein wahrer Leckerbissen. Die Volksrepublik-Donezk-Leute konfiszierten manchmal Autos. Außerdem war ausreichend Diesel da – im Gegensatz zu Benzin. Witalij entblößte seinen Oberkörper bis zum Gürtel und zeigte so, dass er nicht bewaffnet war.

Inna mit ihrer Tante Elvira, einer Überlebenden des Holocaust
Foto mit freundlicher Genehmigung von Inna Satoloka
Foto mit freundlicher Genehmigung von Inna Satoloka
Er stieg in weiße Lumpen gehüllt auf das Fahrrad und fuhr als Erster. Ich saß am Steuer des Wagens. Mama und die Tante winkten mit weißen Handtüchern, sie hatten alle Fenster geöffnet. Sie schafften es nur mit Mühe, den Mann der Tante hinzusetzen, er verstand kaum noch, was vor sich ging und stand praktisch nicht mehr auf (Nikolaj Alekseewitsch starb schon in Kiew am 16.Juni – Anmerkung der Redaktion). Außer den Verwandten nahmen wir noch zwei Hunde mit, von denen einer verwundet war.

Die Entscheidung war richtig, mit Witalij am Steuer hätten sie uns erschossen – ein männlicher Fahrer in einem schwarzen Auto und das auch noch, wo kaum noch zivile Fahrzeuge vorhanden waren. Die Straße hatte sich schon lange in Matsch verwandelt – so eine Art Brei aus Beton, Erdklumpen, nicht explodierten Granaten, Teilen von Dächern und Bruchstücken von Zäunen.

Wir durchbohrten die Reifen schon beim Verlassen der Garage, fuhren nur auf den Felgen und sehr langsam. Witalij zeigte wie ich fahren sollte, um nicht auf Granaten zu treffen. Wir fuhren und schrieen, wir lasen Psalm 90, wir baten darum, nicht zu töten, weinten – es war sehr schrecklich. Buchstäblich alle 200 Meter ein Kontrollposten, viele Leute mit Maschinengewehren. Wenn sie sich näherten, bat Witalij: „Jungs, nicht schießen – hinter mir sind nur eine Frau und alte Menschen.“

Foto mit freundlicher Genehmigung von Inna Satoloka
Wir fuhren und schrieen, wir lasen Psalm 90, wir baten darum, nicht zu töten, weinten – es war sehr schrecklich
Die Rebublik-Donezk-Leute, die sich in der Stadt mit Tschetschenen abwechselten, benahmen sich nicht adäquat. Einer schimpfte mich an: „Ich erschieße dich gleich, zeig, was im Auto ist!“ Andererseits ist ringsherum die Hölle – und da fährt ein einziges Auto – das sieht sehr verdächtig aus. Außerhalb der Stadt gingen reguläre russische Kontrollposten. Die benahmen sich nicht so grob.

Sie entgingen der Filtration dank der Blockade

So gelangten wir nach Mangusch – Witalij voraus auf dem Fahrrad, ich auf den zerstochenen Reifen 50 Meter hinter ihm… Dort war ein Kontroll-Lager, aber wir durchliefen keine Kontrolle – die Alten hätten es nicht überlebt. Wir waren in der Warteschlange als 4980te an der Reihe. Man sagte, wir würden im Laufe einer Woche abgefertigt sein. Aber wo übernachten, wie sich ernähren? Man konnte dort nirgends wohnen, ein Menschenmeer, wir hatten uns 50 Tage nicht gewaschen, die Alten waren krank, zwei Hunde…

Alles in allem fuhren wir aufs Geratewohl – jedem Kontrollposten sagten wir, dass wir einen Blockade-Leningrader mit uns führten – das war die reine Wahrheit. Nikolaj Alekseewitsch hatte 870 Tage in der Blockade gelebt. Ein russischer Marineoffizier, die Blockade hat er überlebt und jetzt wird er sterben, weil ihr ihn nicht durchlasst – so fuhren wir, indem wir den Mann meiner Tante als Pass vorzeigten. Das war auch ein Wunder, weil es keinen Korridor gab, die Fahrzeuge hinter uns kehrten um, während wir bei jedem Kontrollpunkt immer ein und denselben Satz wiederholten. Der erste ukrainische Posten war in Nowodanilowka bei Saporosche. Wir weinten und konnten nicht glauben, dass wir unter den Unseren waren. Wir hatten auch Tante Elvira mitgebracht – sie hat ihre eigene Geschichte.

Meine Nichte erzählt Ihnen, wie sie zwei Alte trafen, die sich blutend dahinschleppten, sich an den Händen haltend, während ringsum Granaten und Bomben fielen. Sie blieben stehen und fragten, Kinder, sind wir auf dem richtigen Weg aus dieser Blockade?
Elvira Michajlowna.

Mein Vater war ein Enkel des Oberrabbiners von Priasow und meine Mama war Kosakin. Als der Krieg ausbrach, war ich 6 Jahre alt. Mein Vater wurde eingezogen, meine Mutter versteckte sich, damit man mich nicht durch ihre Spur finden konnte. Mich verbargen einfache, sehr ehrliche und gute Menschen, denn für das Verstecken eines solchen Kindes liefen sie Gefahr, auf der Stelle erschossen zu werden. Sie kümmerten sich 2 Jahre lang um mich. Sie versteckten mich in Kellern, auf Speichern – wie es gerade möglich war. Die letzten Monate vor der Befreiung von Mariupol mit einem Mädchen, das durch ein Wunder der Erschießung entgangen war. Wir lebten in einem Unterstand in einer Schlucht, dort war alles mit Gebüsch überwuchert. Dort erkrankte ich an Typhus und Lungenentzündung. Ich wurde Anfang September 1943 befreit.

Und jetzt, einen halben Tag vor der vollständigen Blockade, sind wir gegangen. Niemals hätte ich gedacht, dass unser Nachbarland so handeln würde. Als wir wegfuhren, hielten sie uns am Kontrollpunkt an. Ein Soldat prüfte die Papiere meines Mannes und fragte, was schwerer sei – diese Blockade oder jene? Ich sah ihn an und sagte: „Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Blockade unsinniger und totaler ist, und die Waffen viel schwerer als vor 80 Jahren.“

Meine Nichte erzählt Ihnen, wie sie zwei Alte trafen, die sich blutend dahinschleppten, sich an den Händen haltend, während ringsum Granaten und Bomben fielen. Sie blieben stehen und fragten, Kinder, sind wir auf dem richtigen Weg aus dieser Blockade? Und sie waren nicht alleine, einige gingen auf Krücken, andere mit Rollatoren, es floss Blut – ein furchtbares Schauspiel. Wenn die Flugzeuge Bomben warfen, krochen sie einfach weiter, so gut sie konnten.

Inna Satoloka.

Den 14. April halten wir für unseren zweiten Geburtstag. Gott sei Dank, wir sind herausgekommen, sind jetzt in Kiew und richten uns ein. Mariupol wird einfach vom Gesicht der Erde getilgt. Eine meiner Tanten und eine Kusine leben in Russland – jetzt verkehren wir nicht mit ihnen. Als alles anfing, rief die Tante an und sagte: „Wir finden das alles natürlich nicht gut.“ Meiner Meinung nach waren das nicht ganz passende Worte, es klang nichtssagend. Aber die Worte, die unseren Beziehungen ein Ende setzten, kamen aus dem Mund meiner Tante, einer klugen und gebildeten Frau. „Keine Sorge. Sie werden eure Nazis punktuell töten und wir machen aus euch ein zweites Finnland“, sagte sie zu meiner Mama. Und dabei wusste sie, dass mein Sohn Soldat ist und in Mariupol dient. Früher war ich nicht so kategorisch, wollte den Hass nicht rauslassen. Aber heute… Mariupol existiert praktisch nicht mehr. Einer unserer Nachbarn bekleidete einen verantwortungsvollen Posten. Ihm wurde die Anzahl der Todesfälle mitgeteilt. Am 16. März waren offiziell 20 000 Opfer unter der Zivilbevölkerung registriert. Aber wie viele sind es heute?

Die Zeugenaussage wurde am 5. Mai 2022 aufgezeichnet

Übersetzung: Dr. Dorothea Kollenbach