Die Soldaten lebten auch nicht allzu schick. Mal fragen sie nach Wasser, mal nach etwas anderem, und wenn du eine Flasche Wodka mitbringst, küssen sie dich förmlich. In unserem Hof war ein Brunnen, wir holten dort Betriebswasser – trinken konnte man es nicht. Ich sage zu den Russen: „Ihr müsst Tabletten haben zur Desinfektion.“ „Ja, hatten wir“, sagen sie, „vor einem Monat, aber sie sind ausgegangen.“ „Und eure Konserven“, frage ich, „habt ihr noch Gemüseeintopf?“ „Haben wir auch nicht mehr“, antworten sie. Sie aßen genau denselben scheußlichen Brei aus der Feldküche, die sie uns gaben. Ich sehe, sie alle tragen unterschiedliche Schuhe – entweder hatten sie sie jemandem weggenommen oder vielleicht bei der humanitären Hilfe gefunden, kurzum, ungleiche Schuhe, verschiedene Kopfbedeckungen, abgewetzte, schmutzige Uniformen. Die Führung sorgte nicht besonders für sie.
Die Tragödie Mariupols nenne ich „die drei A“
Am 25. April kam frühmorgens ein Mann zu uns in den Keller, nannte meinen Vor- und Familiennamen – und brachte mich zur Bilossarajska Kossa. Obwohl ich 10 Kilo verloren hatte, war das Wichtigste trotzdem nicht das Essen, sondern warmes Wasser – zum ersten Mal konnte ich eine richtige Dusche nehmen. Mein Gesicht war von einem Vollbart bedeckt, scherzhaft wurde ich Hemingway und manchmal auch Karl Marx genannt. Aber als ich rasiert und frisiert war, erkannte ich mich nicht wieder – ich hatte mich sehr verändert.
Dann brachte man uns nach Berdjansk – wir alle waren jüdisch, ich war im Chessed registriert. Danach ging es auf die Krim, in das Dorf Nikolaewka. Ich nahm wieder etwas zu, aber die Psyche ist natürlich traumatisiert, viele Freunde und Nachbarn sind ums Leben gekommen.
Auf der Krim wurden wir auf Kosten jüdischer Sponsoren in einem kleinen Hotel untergebracht. Man begegnete uns warmherzig und fürsorglich. Einmal geriet ich allerdings aus der Fassung wegen der Putzfrau – sie putzte gut, aber einmal hatte sie ein T-Shirt mit dem Großbuchstaben Z an – vielleicht hatte sie nicht nachgedacht. Und dann kam eine Familie aus Moskau – im Unterschied zu uns um Urlaub zu machen, und sie bezahlten, gemessen an den Mariupoler Verhältnissen, ziemlich viel. Es war eine nette Familie, zwei Kinder, die Frau war sehr freundlich. Aber der zehnjährige Junge trug ein T-Shirt mit einem Porträt von Putin und der Aufschrift: „Wer mich beleidigt – überlebt das keine drei Tage“. Die Leute machten einen intelligenten Eindruck und verstanden doch nicht, dass hier Flüchtlinge waren, die alles verloren hatten …
Und am 1. Juni setzte man uns in Mineralnyje Wody ins Flugzeug nach Tel Aviv. Wir wurden herzlich empfangen, wurden mit allem versorgt – die Leute brachten uns Kleidung, Schuhe und sogar Bücher – ich bin verrückt nach Literatur und habe in 70 Jahren nicht wenige Bücher verschlungen. Ich wohne in Netanja, die Menschen hier sind sehr freundlich, sie bieten Hilfe an und ich habe niemanden mit Sympathien für Russland getroffen. Allerdings habe ich einen Neffen in Chadera – er behauptet, dass die Russen all das veranstaltet haben, damit die Amerikaner nicht in die Ukraine kämen. Aber ich habe in Mariupol keine Amerikaner gesehen, russische Soldaten dagegen tagtäglich.
Das, was mit Mariupol geschehen ist, nenne ich „drei A“: Abgrund (im Russischen „ad“ – „Hölle“ A.d.Ü.), Apokalypse, Armageddon. Andauernd drängen sich mir historische Parallelen auf: als sie uns isolierten – die Leningrader Blockade; unser Haus, das sich in der Schusslinie befand – das Pawlow-Haus in Stalingrad. Und natürlich das biblische Sodom und Gomorra. Und dann noch – Cato der Ältere, der immer wiederholte, dass Karthago zerstört werden müsse. Schreckliche Assoziationen. Jemand wollte unbedingt Mariupol zerstören und ich glaube, dass WWP (Wladimir W. Putin) ein Nürnberger oder Haager Prozess bevorsteht.
Neulich sah ich einen Spot, wie die Stadt wiederersteht – die Straßen werden aufgeräumt, Polikliniken und Geschäfte öffnen. Die Leute haben sich daran gewöhnt und man kann sie verstehen – es nicht gutheißen, aber verstehen. Wenn sich die Ukrainischen Streitkräfte das Ziel setzen, Mariupol zurückzuerobern, und von neuem Granaten explodieren, dann werden die Menschen die Ukraine hassen. Sie haben schon viel gelitten, waren in ihr normales Leben zurückgekehrt, obwohl auf niedrigerem Niveau. Die Bewohner von Donezk und Lugansk sagen, dass sie insgesamt ärmlichere Verhältnisse haben als in der Ukraine einschließlich Mariupol.
Was kann ich noch erzählen? Ehrlich gesagt will ich vieles vergessen – das sind schlechte Erinnerungen, Elend, Tränen.