Buchstäblich eine Minute von dieser Brücke entfernt standen die Volksrepublik-Donezk-Leute auf einem Hügel, von dem aus man die gesamte Stadt überblicken konnte. Der Kontrollpunkt war aus verbrannten Autos und Reifen gebaut, damit die Leute sich hindurchschlängeln mussten. Da war eine riesige Menge Leichen. Natürlich hatte ich Tote auf dem Hof gesehen, aber hier lagen sie offensichtlich schon lange. Alle waren mit Staub bedeckt. Ein Körper ohne Arme, Beine und Kopf lag wie Abfall auf dem Weg herum. Da stand ein ausgeschlachtetes Auto – weiße Tücher, die Aufschrift „Kinder“ und blutüberströmte Menschen. Das war schrecklicher als alles, was ich bis dahin gesehen hatte. Dort stand eine Autoschlange und daneben schoss ein Panzer direkt auf die Stadt. Und ich sah, wo es explodierte.
Dachten sie wirklich, dass sie uns gerettet hätten?
Eine gründliche Durchsuchung konnte vermieden werden, indem man den Soldaten eine Flasche Alkohol und Zigaretten gab. In allen unseren Autos lag oben auf dem Gepäck diese Garnitur. Sie sprachen recht freundlich mit uns. Sie beruhigten uns sogar, hier sei es schon ruhig, es gebe keinen Beschuss. Natürlich nicht, dort gab es ja nichts mehr zu zerstören. Dachten sie wirklich, dass sie uns retteten? Sie prüften unsere Papiere, die Telefone, Papa öffnete den Kofferraum, der Soldat nahm das Paket und sagte, wir könnten weiterfahren. Bei meiner Schwester und meinem Bruder, die hinter uns fuhren, war es genauso. Unsere Sachen untersuchten sie nicht. Sie fragten, wo mein Mann sei – ich sagte: zu Hause. Ich zeigte nur meinen israelischen Pass, obwohl ich auch einen ukrainischen hatte. Das spielte keine Rolle.
Bei den anderen kontrollierten sie die Autos, einige Männer mussten sich ausziehen. Wir setzten unsere Fahrt fort – wieder gesprengte Autos, wieder herumliegende Leichen. Bis zum Verlassen der Stadt gab es vier solcher Kontrollposten. Bei jedem wurden die Papiere kontrolliert, sie fragten, wieso ich hier sei. Das Kind war damals 8 Monate alt, einige sprachen in Babysprache mit ihm… Tschetschenen habe ich in der Stadt nicht gesehen, ehrlich gesagt, es waren Russen, wenigstens in diesem Augenblick.
Bis zur russischen Grenze zählte ich mehr als 20 Kontrollposten. Die Strecke änderte sich, viele Brücken waren gesprengt worden. Viel Kriegstechnik – Panzer, Schützenpanzer. Einige repräsentative Autos waren sogar schwarz und ohne Nummern.
Ein Soldat am Kontrollpunkt warnte: das Feld als Toilette zu benutzen, sollte man vergessen – alles sei vermint, am Randstreifen dürfe man nicht anhalten. Als wir etwa 20 Kilometer von der Stadt entfernt waren, sahen wir, dass direkt im Feld ein BM-21 „Grad“-Rakenwerfer steht und Mariupol beschießt. Das war furchtbar.
Wir kamen zu einem Städtchen in der Volksrepublik Donezk, wo man eine Kontrolle passieren sollte. Bis heute habe ich den Zettel verwahrt (siehe Foto), der mir erlaubte, die russische Grenze zu überqueren.
Bei der Polizei wurde uns gesagt, wir sollten eine Fotokopie der Dokumente mitbringen, aber wir hatten nur Griwna (ukrainische Währung) und man konnte nirgends Geld wechseln. Ich fühlte mich so hilflos. Ich wollte im Geschäft Feuchttücher kaufen – um das Kind abzuwischen, Einmallöffel, um es zu füttern. Aber ich hatte keine Rubel und die Stadt war voller Flüchtlinge wie wir.
Das Leben in der Volksrepublik Donezk war einfach stehengeblieben
Die Volksrepublik Donezk ist etwas Schreckliches, das Leben ist dort einfach stehengeblieben. Es gibt kein Internet, man kann nirgends übernachten, es wird dunkel. An der Polizeistation ist eine riesige Schlange. Mama lief von einem Ort zum anderen und bot Schokolade für eine Fotokopie an – aber niemand ging darauf ein. Papa fand einen Mann, der bereit war, 100 Dollar in Rubel zu wechseln… Wir machten die Kopie, erhielten Formulare – jetzt mussten wir uns registrieren lassen. Welches Auto, wer fährt mit ihm, wie viele Leute, wo waren sie vorher gewesen, hatten sie den Ukrainischen Streitkräften geholfen, standen sie in Kontakt mit dem ukrainischen Militär usw. Wir stehen 4 Stunden in der Schlange, es beginnt dunkel zu werden… Meine Mutter ist kämpferisch, sie ging zum Chef: „Nehmen Sie uns dran, im Auto sitzen 3 Kinder.“ Mein Bruder hat eine Tochter von 9 Jahren, meine Schwester einen Jungen von einem Jahr und 10 Monaten und ich ein Baby von 8 Monaten. Dieser Chef sah meine Mutter an und meinte: „Fahren Sie langsam los, man wird Sie durchlassen.“
Wir fuhren weiter durch Nikolskoje, Dokutschaewsk, Dobropolje, Amwrosijewska. Nach einigen Stunden kamen wir zur russischen Grenze. Dort steht ein Häuschen, von dem aus der Grenzsoldat warnt, dass man ohne Registrierung nicht passieren kann. Kehren Sie um, heißt es, hier ist eine Ortschaft, melden Sie sich bei der Polizeidienststelle an. Was tun, wir fuhren los – dort war kein Mensch, man empfing uns, Sie werden es nicht glauben, wie Familie. Sie behandelten uns so verständnisvoll, führten uns in die Versammlungshalle. Dort standen Betten, es gab Tee, Kaffee, Gebäck. Sie zeigten uns, wo wir uns waschen konnten. Einige interessierten sich für die Zustände in konkreten Stadtteilen Mariupols – sie hatten dort Angehörige, Schwestern und Brüder. Sie weinten, wir weinten (sie weint). Sie teilten jedem einen Mitarbeiter zu, führten uns zu den Büros, aber dennoch ließen sie die Männer sich auskleiden, prüften die Tätowierungen, fotografierten die Gesichter von vorne und im Profil und nahmen Fingerabdrücke. Sie scannten alle Pässe und überprüften alle Telefone.
Im Grunde war es ein Verhör: wann ich angekommen war, wo meine Eltern wohnen, wo sie gemeldet sind, ihr Geburtsdatum, ihre Telefonnummern. Dasselbe für jedes Familienmitglied. Wo du wohnst, und wie du eingestellt bist – und alles wurde notiert.
Als sie den israelischen Pass sahen, riefen sie das russische Katastrophenschutzministerium an und teilten mit, wo ich mich befand. Und von dort kontaktierte man die Botschaft.
Wir wussten noch nicht, wo Papas Schwester sich mit ihrer Familie aufhielt, ob sie am Leben waren. Doch bei der Kontrolle der Pässe sagte ein Mitarbeiter: „Der Familienname kommt mir bekannt vor. Ich habe ihn gestern irgendwo gesehen.“ Er blättert in einem Büchlein und tatsächlich – da sind alle Verwandten von Papa, sie sind gestern ausgereist.
Niemals habe ich von jemandem gehört, dass er nach Russland will. Nicht ein einziges Mal
Endlich erhielten wir diese Papiere mit Stempel und Unterschrift. Und mit ihnen bewegten wir uns in Richtung russische Grenze. Es war etwa 9 Uhr abends. Als wir an der Reihe waren, bogen wir ab – wie alle Fahrzeuge mit ukrainischen Kennzeichen. Etwa 2 Stunden saßen wir einfach so da, dann nahmen sie die Papiere und gaben sie lange nicht zurück, dann gingen sie zu allen ukrainischen Autos und holten die Männer – in unserem Fall Papa und meinen Bruder. Sie nahmen sie für ein bis zwei Stunden mit – das gleiche Verhör – sie mussten sich ausziehen, man nahm Fingerabdrücke usw.
Dann kontrollierten sie das Auto – etwa eine Stunde, und dann standen wir noch ein paar Stunden. Insgesamt dauerte es sieben Stunden, um ein Uhr nachts ließen sie uns fahren. Wir wollten ein Hotel nehmen, aber alles war übervoll und so mussten wir nachts nach Rostow fahren. Dort übernachteten wir und brachten uns in Ordnung. Wir wechselten die Dollars – ich erinnere mich nicht mehr an den Kurs, aber wenn es in Griwna fast 2000 Dollar waren, dann bekamen wir in Rubel den Gegenwert von 700 Dollar.
Das Ziel war Georgien, niemand wollte in der russischen Föderation bleiben, das hatten wir bereits im Keller beschlossen. Viermal übernachteten wir in Hotels – an der Rezeption wussten alle Bescheid, wir waren ja nicht die einzigen, die auf diesem Weg geflohen sind. Die Stadt war zerstört, es gab sie nicht mehr. Den Flüchtlingen war anzusehen, dass sie sich einen Monat lang nicht gewaschen hatten. Alles roch nach Feuer und Ruß. Alle verstanden die Situation, viele weinten, einige entschuldigten sich. Ein Cousin meiner Mama lebt in Moskau – auch er rief an und entschuldigte sich.