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Charkiw
Wenn ein Marschflugkörper vorüberfliegt, zieht sich einem im Inneren alles zusammen
Bronislawa Gromowa (geb. Tumarkina) – Ehefrau und literarische Sekretärin von Dimitrij Gromow*, und ihr Vater – der 87jährige Lew Tumarkin
Bronislawa Gromowa
Papa war sieben Jahre alt, als er im 1941 mit meiner Mama (ich wurde nach ihr benannt) in den Ural evakuiert wurde. Achtzig Jahre später musste er sich daran erinnern – wie sie unter Bombardierung gelebt hatten, wie sie im Keller gesessen und ihre Dokumente in einem Notfallkoffer verwahrt hatten.
Wir haben immer noch das Gefühl in einem Film zu sein
Vom Ausbruch des Krieges erfuhr ich durch meinen Sohn, der am 24. Februar um fünf Uhr morgens anrief. Sie wohnten mit ihrer Schwiegertochter in der Nähe eines Fernsehturms, der schon in den ersten Stunden unter Beschuss geriet. Noch schlaftrunken, verstand ich nichts. Trotz aller Vorankündigungen konnten wir uns nicht vorstellen, dass Russland beschließen würde, Wohnviertel einer friedlichen Stadt zu bombardieren und dass über unsere Köpfe von Belgorod abgefeuerte Marschflugkörper hinwegfliegen würden. Aber das geschah und beim nächsten Angriff findest du dich plötzlich auf dem Boden liegend.
Lew Tumarkin mit seinem Urenkel
Als am dritten Tag des Krieges auf dem Platz der Freiheit eine sehr starke Explosion stattfand, hat uns das einfach umgehauen. Von dem Vorgehen der Russen in Syrien hatten wir gehört, aber sie agierten genauso im russischsprachigen Charkiw. Seit der Zeit haben wir das Gefühl, in einem Roman oder in einem Film zu sein – das ist ein verständlicher psychischer Schutzmechanismus, weil das, was geschieht, einem einfach nicht in den Kopf geht.
Lew Wulfowitsch Tumankin: Eine meiner Bekannten, die in der Nähe einer automatischen Telefonzentrale wohnte, wurde eine halbe Stunde vor dem Einschlag einer Rakete von ihrem Sohn aus dem Haus in Sicherheit gebracht. Ihre Wohnung wurde völlig zerstört. Und das Haus gegenüber, in dem eine andere Bekannte wohnt, stürzte ein.
Bronislawa Gromowa: Damals hatten wir viele Bekannte in Russland. Sofort nach Kriegsbeginn telefonierten wir mit Verwandten aus Kasan und hörten, wir hätten acht Jahre das Donezk-Gebiet bombardiert und das sei nun die Antwort. Obwohl der Konflikt im Donbass schon lange eingefroren ist, im vergangenen Jahr kamen dort nur acht Menschen ums Leben, das sind weniger als jetzt jede Stunde…
Ich bin in der UDSSR aufgewachsen und kenne die Wirkung der Propaganda von A bis Z, aber in der Ära des Internets ist eine derartige Blindheit einfach befremdlich. Eigentlich fand der Bruch bereits 2014 statt – nach den Rufen „die Krim gehört uns,“ stellten wir mit vielen Bekannten den zwischenmenschlichen Umgang ein. Immerhin sind Flugzeugangriffe auf Schlafstädte im 21. Jahrhundert fast im Zentrum Europas bis heute völlig unbegreiflich.
Papa war bereit, Russisch Roulette zu spielen
Von Kindheit an wurden mir Geschichten über den Krieg erzählt – Mama wurde sogar im Alter von 3 Jahren abtransportiert, mit diesen Erzählungen bin ich aufgewachsen. Und mit Geschichten darüber, wie jede Brotrinde aufbewahrt wurde. Und heute wiederholt sich das – es ist zum Verzweifeln.
Ich habe immer gedacht, ich sei mutig, aber wenn ein Marschflugkörper mit ganz schrecklichem Pfeifen heranfliegt – dann zieht sich alles in mir zusammen. Und ich kam zu der Erkenntnis, dass ich, wenn ich jetzt falle, niemandem mehr helfen kann und deshalb alles hinwerfen und losrennen muss.
Am Vorabend fragte ich Papa, ob er bleiben wolle. Er antwortete, er habe lange genug gelebt und sei bereit, Russisch Roulette zu spielen. Aber mein Bruder und seine Kinder riefen aus Deutschland an und überredeten uns, den Großvater zu retten. Sein Sohn schrieb uns im Europäischen Kulturzentrum „Beit Dan“ für einen Evakuierungs-Autobus ein – und am nächsten Morgen verließen wir sofort nach Beendigung der Ausgangssperre mit leichten Rucksäcken und mit einem Wägelchen das Haus. Ein Taxi zu rufen war unmöglich. Bis zum Bahnhof gingen wir anderthalb Stunden, Papa mit Nordic Walking-Stöcken… Zum Glück schneite es und Nebel senkte sich auf die Stadt – bei solchem Wetter bombardierten sie normalerweise nicht.
Stadtzentrum von Charkiw nach Beschuss durch russische Truppen
Ich habe immer gedacht, ich sei mutig, aber wenn ein Marschflugkörper mit ganz schrecklichem Pfeifen heranfliegt – dann zieht sich alles in mir zusammen
Wir reisten in einer Karawane von Bussen, hielten nirgends zur Übernachtung an, manchmal auf der Gegenfahrbahn. Für die Fahrt nach Lwow brauchten wir fast 48 Stunden. Wir waren noch dankbar, dass es so war – viele Flüchtlinge standen dicht gedrängt in den Zügen. Unterwegs machten unsere Führer in ihrem Heimatdorf Halt und brachten einige Kisten mit Lebensmitteln aus dem Haus – da gab es Kartoffeln und Eier und Brot, was wir eine Woche lang nicht gesehen hatten. Sie gaben uns sehr schmackhaftes Brunnenwasser.
Während man uns das herbeischleppte, saß ich da und schluchzte. Ich erinnerte mich daran, wie wir 2014 warme Kleidung und Essen für die Flüchtlinge aus Donezk und Lugansk gesammelt hatten und ich Tarnnetze knüpfte. Erst da wurde mir klar, dass wir nun selbst Flüchtlinge waren und von anderen Menschen Hilfe annahmen. Dieses Essen war sehr hilfreich, weil die kleinen Geschäfte an den Tankstellen entlang der Straße leer waren – die Flüchtlinge hatten alles ausverkauft, nur Eis gab es noch.
Dann ging der Weg nach Polen, sieben Stunden Warten am Grenzübergang. In Deutschland kamen wir am 8. März abends an. In Kassel zuckte ich noch einige Tage bei jedem plötzlichen Geräusch zusammen, wenn nur jemand eine Tür zuschlug.
Stadtzentrum von Charkiw nach einem Luftangriff
In Kassel zuckte ich noch einige Tage bei jedem plötzlichen Geräusch zusammen, wenn nur jemand eine Tür zuschlug
Vor dem Krieg wollten wir so gerne meinen Großneffen besuchen, der hier während der Pandemie zur Welt gekommen war. Und ich hatte schon lange davon geträumt, wie wir als eine große Familie in einer Wohnung leben würden – und so geschah es auch. So war alles, wovon ich träumte, in Erfüllung gegangen, doch eines passte nicht ins Bild – die Bombardierungen meiner Vaterstadt Charkiw.
* Vielen in der Ukraine (und nicht nur dort) ist Henry Lion Oldie bekannt – das Pseudonym des Künstler-Duos der Charkower Schriftsteller Dimitrij Gromow und Oleg Ladyschenskij. Das Schriftsteller-Duo galt einst als „der beste Science-Fiction-Autor Europas“, insgesamt wurden die Co-Autoren mit zwei Dutzend verschiedenen Prämien ausgezeichnet, darunter auch russische Auszeichnungen.
Die Zeugenaussage wurde am 16. März 2022 aufgezeichnet