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Melitopol
Das Onkologische Zentrum in der Stadtmitte wurde beschossen
Alexander Tschernjawskij, Rentner
Alexander Tschernjawski mit seiner Frau
Wir wohnten in der sechsten Etage, die Loggia geht auf den Flughafen hinaus und am 24. früh
morgens schreit meine Frau: „Explosionen, Krieg!“ Und sofort sehen wir eine riesige Pilzwolke, offenbar haben sie ein Lager mit Munition getroffen oder mit Benzin… Die Flugzeuge waren vom Flughafen abgezogen worden, vielleicht erwartete man sie einen Angriff. Nur ein altes Ding war geblieben – es war von der Stadt gekauft worden, um es im Park aufzustellen und ein Kinder-Café dort einzurichten – da hatten die Russen es getroffen, um dann damit zu prahlen…

Schon am ersten Abend erschienen die Russen in der Nähe von Melitopol

Natürlich war es ein Schock. Man beruhigte uns allerdings – alles sei unter Kontrolle usw. Die
Meldungen lauteten anders, aber wir wollten nicht glauben, dass Russland die Ukraine überfallen würde. Wir gingen in den Hof hinunter, die Nachbarn fragten einander – stimmt das, ist das nicht ein Irrtum?
Der Bürgermeister von Melitopol, Ivan Fedorov, der vom russischen Militär entführt wurde. Er wurde im Austausch gegen 9 russische Soldaten aus der Gefangenschaft entlassen.

Foto: Wikipedia
Und morgens gingen sie über die Hauptstraße, direkt unter unserem Balkon marschierten die Kolonnen, alles bebte… In den ersten Tagen rührten sie niemanden an, außer dass sie die Autowerkstatt beschossen und einige Privathäuser niederbrannten. In der Stadt selbst besetzten sie den Sicherheitsrat der Ukraine, die Bezirksdienststelle und die Polizei. Aber dann begannen sie die Daumenschrauben anzuziehen. Der stellvertretende Chef des Wehrkommandos kam zu ihnen mit Listen der Teilnehmer der „Anti-Terror-Operation“, als Bürgermeister setzten sie die Sekretärin des Stadtrats Galina Daniltschenko ein.

Als die Bewohner von Melitopol begannen, zu proukrainischen Kundgebungen zusammenzukommen, rückten die Russen heran, zuerst saßen sie nur auf dem Flugplatz, aber dann gingen viele von ihnen in die Stadt. Wir selbst gingen einmal zu einer derartigen Kundgebung und sahen dort viele Bekannte. Dann wurden wir verjagt, sie schossen in die Luft, einigen fügten sie Beinverletzungen zu, schossen aber nicht mit Tötungsabsicht. Aber die letzte Demonstration lösten sie gewaltsam auf, jagten den Teilnehmern nach, schlugen sie und verhafteten 50 Leute. Das geschah etwa zwei Wochen nach dem Beginn der Besetzung. Danach gingen die Leute nicht mehr hinaus.

Seit dem Erscheinen der Listen begannen sie Geschäftsleute, Aktivisten und Journalisten zu verhaften. Die Schuldirektoren wurden gezwungen, auf das russische Lehrprogramm überzugehen, dabei blieb nur noch ein Monat bis Ende des Schuljahres. Sie verfassten Kündigungsschreiben, aber wurden festgenommen, zehn bis zwanzig Kilometer aus der Stadt gebracht und dort freigelassen – so jagte man ihnen Angst ein. Unser Bürgermeister, Iwan Fedorow, wurde entführt und danach gegen russische Gefangene ausgetauscht.

Landwirte, die wir kannten, haben sie erschossen und ließen mehrere Tage nicht zu, sie zu beerdigen

Das Exekutivkomitee der Stadt wurde sofort geplündert – Computer und Büroausstattung. Auch Sportartikel wurden gestohlen – die Russen mussten Zivilkleidung anziehen. Sie mischten sich schnell unter die Menge, man fürchtete sich, auf der Straße etwas zu sagen – du weißt nicht, wer neben dir ist. Sie wechselten oft, zuerst waren die Soldaten der Volksrepublik Donezk da, dann kamen die Russen. Sie ernannten einen Kommandanten. Sie handelten eigenmächtig.

Synagoge von Melitopol
Landwirte, die wir kannten, haben sie mitsamt Familie in einem Jeep erschossen. Einige Tage ließen sie es nicht zu, sie zu beerdigen und forderten einen weiteren Jeep
Ein Bekannter erzählte, wie sie mit einer Brigade einen Turm hinter der Stadt bauten. Sie fuhren in einem Kleinbus mit Werkzeugen jeden Tag durch den Kontrollpunkt. Wir wurden immer durchgelassen, doch einmal zeigen sie auf einen Burschen – der bleibt hier. Die ganze Brigade protestierte: was soll das, wir können nicht ohne ihn usw. Und was wollt ihr von ihm? „Der hat mich so seltsam angesehen“, antwortet ein Soldat.

Einmal fuhren Russen durch die Stadt und zerschossen die Schaufenster von Supermärkten und Elektronikgeschäften. Binnen eines Tages wurde alles ausgeplündert.

In den Apotheken gab es riesige Menschenschlangen, es gab keine Blutdruck- und Herzmedikamente mehr und die Leute standen unter Stress – gerade jetzt wurden diese Arzneien besonders gebraucht. Es wurde fast kein Brot mehr gebacken, es bildeten sich enorme Schlangen und das verursachte Aufregung, weil die Leute auf Vorrat kauften. Zentren außerhalb der Stadt und Sanatorien halfen aus, sie hatten Vorräte für die bevorstehende Saison. Bauern kamen – sie stellten sich einfach auf die Straße und verkauften Gemüse. Eigentlich litten wir keinen Hunger, aber die Defizite waren spürbar.

Banken und Geldautomaten arbeiteten kaum. Meine Frau bemühte sich 10 Tage lang ihre Rente zu bekommen. Sie stand um sechs Uhr morgens auf und meldete sich an. Diejenigen, denen der Postbote die Rente brachte, blieben ohne Geld. Auch Menschen mit Tastentelefonen konnten sich nicht auszahlen lassen, es ging nur auf der Bank mit Reisepass. Einmal wurden drei Millionen Griwna zur Post gebracht – Renten. Da kamen Leute mit Maschinenpistolen, sie nahmen alles mit.

Unsere Griwna wurden immer weniger und die Situation verschlechterte sich. Wir teilten so viel wir konnten – unter uns wohnte eine junge Frau in der ersten Etage mit drei Kindern – wir haben uns um sie gekümmert. Und wir halfen noch einer Familie auf dem Lande – einem jungen Paar mit vier Kindern.

Es entstanden auch Probleme mit dem Benzin. Manchmal hielten sie die Autos einfach an und zapften das Benzin ab. Viele wechselten von tollen ausländischen Modellen auf einfache „Schiguli“ – die rührten sie nicht an.
In der ersten Zeit konfiszierten sie die Telefone – überprüften sie und gaben sie nicht zurück. Aber insgesamt hielten sie Passanten nicht oft an, öfter Autofahrer. Landwirte, die wir kannten, haben sie mitsamt Familie in einem Jeep erschossen. Einige Tage erlaubten sie nicht, sie zu beerdigen, forderten einen weiteren Jeep. Als der Sohn das Fahrzeug brachte, erlaubten sie, den Jeep mit den Leichen mit einem Traktor ins Dorf zu schleppen.

Jeder Morgen begann mit der Suche nach Medikamenten


In der Stadtmitte beschossen sie das Onkologische Zentrum – mit einem großen roten Kreuz drauf, es war von weitem zu sehen, und eben erst gebaut. Daneben ist der alte Bau mit zwei Etagen. Hier im zweiten Stock schlugen sie aus einem Schützenpanzer zu – Bekannte von uns arbeiteten dа. Dort waren der Operationssaal und der Verbandsraum. Das war ganz am Anfang der Besetzung.

Um 16 Uhr ist die Straße menschenleer. Alle verstecken sich in den Häusern. Wir konnten diese Anspannung nicht aushalten. Meine Frau nahm 10 kg ab, ich konnte meinen Gürtel um zwei Löcher enger schnallen. Und das war nicht, weil wir gehungert hätten
Sie begannen die Fabriken auszurauben und die Technik auf die Krim zu transportieren – 120 Kilometer von uns entfernt. Jewgenin Balitzkij vom Oppositionellen Block machten sie zum „Gouverneur“ des Region Saporoschje. Über ihn war schon lange alles bekannt. Als am 9. Mai am Tag des Sieges eine Kundgebung stattfand, versammelte er stets „verkleidete“ Kommunisten – sie nahmen eine rote Fahne, befestigten St.-Georgs-Bänder und marschierten als eigene Kolonne. Aber es gab auch andere. Ich traf einen Polizisten, den ich kannte – er kam selbst auf mich zu und sagte: „Ich habe eine Familie, die ich versorgen muss.“ Er versuchte sich zu rechtfertigen.


Um 16 Uhr ist die Straße menschenleer. Alle verstecken sich in den Häusern. Wir konnten diese Anspannung nicht aushalten. Meine Frau nahm 10 kg ab, ich konnte meinen Gürtel um zwei Löcher enger schnallen. Und das war nicht, weil wir gehungert hätten. Die Atmosphäre war einfach so. Da fährt ein russischer KAMAS, stellte sich quer in die Straße, heraus springt ein Maschinenpistolenschütze, hält alle Autos an und kontrolliert sie. Wenn ihm jemand nicht gefällt – wird er festgenommen. Allein bis zu unserer Ausreise wurden 200 Menschen entführt – viele ließen sie wieder frei, einige verschwanden spurlos.

Meine Frau hat außerdem eine Schilddrüsenerkrankung, sie nimmt Euthyrox – ein Medikament, das es nirgends gab und man konnte es auch nicht bestellen. Jeder Morgen begann mit der Suche danach. Letztlich hörte sie auf zu sprechen und fahren will sie nicht… Am Abend stritten wir uns, aber trotzdem beschlossen wir zu fahren und nahmen die Nachbarin mit den Kindern aus der ersten Etage mit. Bei uns in Saporoschje konnte man ausreisen, die privaten Fahrer erhöhten die Kosten jedoch auf 150 Dollar pro Person. An den Evakuierungsbussen war eine riesige Schlange, eine Woche lang ging die Nachbarin mit den Kindern – sechs, vier und anderthalb Jahre alt – hin, einen Platz bekam sie nicht.

„Haben Sie keine Angst, Sie sind schon zu Hause“


Im Übrigen hatte sie die Aufschriften „Kinder“ schon vorbereitet und weiße Tücher. Das war am 9. April. An der Straße stand viel kaputtes Kriegsgerät, obwohl sie einen Teil zur Krim gebracht hatten. An den Kontrollpunkten standen uns Demütigungen bevor – sie selber sind irgendwie bedrückt, hungrig, aber sie betteln um Zigaretten und durchsuchen alles, Jackentaschen und Damenhandtaschen. Die Telefone müssen auf die Werkseinstellungen zurückgesetzt werden, alle Sachen wurden umgekrempelt, die Männer mussten sich ausziehen. Aber einer benahm sich normal: „Oh, Kinder, habt keine Angst. Der Onkel hat doch auch Kinder.“ Auf 70 Kilometern durchliefen wir 15 Kontrollpunkte.

Und da sehe ich das Abzeichen am Ärmel des Soldaten und sage zu meiner Frau; „Walja, das sind unsere!“ Sie bricht in Tränen aus und ich kann sie nicht beruhigen. Der Soldat kommt zu uns und sagt zu ihr auf Ukrainisch: „Warum weinen Sie?“ Und sie bekommt kein Wort heraus
Die Brücken waren zerstört, wir machten Umwege über Dörfer, kleine Flüsse, auf den Randstreifen standen ausgebrannte Autos. Das letzte Dorf vor dem kontrollierten Gebiet – Kamenskoe – lag in Trümmern, es gab weder Dächer noch Fenster oder Türen. Wir fuhren die Straße hinunter. Die Einheimischen schauen teilnahmslos auf die Kolonne.

„Kann ich auf die Toilette gehen?“
„Ja, geh.“

Direkt an der Ausfahrt des Dorfes ist ein Kontrollposten – wieder machten wir Halt. Und da sehe ich das Abzeichen am Ärmel des Soldaten und sage zu meiner Frau; „Walja, das sind unsere!“ Sie bricht in Tränen aus und ich kann sie nicht beruhigen. Der Soldat kommt zu uns und sagt zu ihr auf Ukrainisch: „Warum weinen Sie?“ Und sie bekommt kein Wort heraus. Wir umarmten uns. „Haben Sie keine Angst, Sie sind schon zu Hause.“ Sie baten uns nur, die Handys auszuschalten – weiter liegen Tokmak, Pologi – dort wird gekämpft, und wenn man geortet wird, kann ein „Gruß“ rüberfliegen.

Schon als wir den Kontrollpunkt passierten, teilte uns unsere Nachbarin mit, dass ihr Mann Mitglied der Operation der Vereinigten Kräfte der Ukraine sei. Das war ein Schock für uns. Wir brachten das Mädchen zum Bahnhof – sie ist schon in Deutschland. Man begegnete uns in Saporoschje wie Verwandten und von dort ging es nach Tscherkassy – das ist die Heimatstadt meiner Mutter. Ihr Familienname ist Pinkusowitsch. In „Yad Vashem“ sind die Daten all meiner erschossenen Vorfahren. Mein Onkel, der in Israel lebt, wurde im Waisenhaus von der ukrainischen Krankenschwester Anna Schuleschko gerettet – einer Gerechten unter den Völkern. Er war damals vier Jahre alt. Seine Eltern wurden erschossen, aber Anna gelang es, ihn mitzunehmen. Er nannte sie „Mama“ bis zu ihrem Tode.

„Ihr lügt doch alle“...


In Tscherkassy wandten wir uns an „Sochnut“, sie schickten uns nach Lwiw, von dort zu ihrer Abteilung in Truskawez und dann nach Budapest. Großartige Menschen, so viel Aufmerksamkeit haben wir in unserem ganzen Leben nicht gesehen. Wir sollten im Juni zu Onkel Wolodja zu Besuch nach Israel fliegen, und dann passiert so etwas. Wir feiern in diesem Jahr unseren 50. Hochzeitstag. Wir ließen alles stehen und liegen und fuhren. Zwar gaben sie uns nicht ihre Zustimmung für die Repatriierung, weil mein Urgroßvater 1921 zum Christentum übergetreten war, obwohl er 1943 mit seiner gesamten Familie als Jude erschossen worden war. Sein Familienname ist in den Listen des „Yad Vashem“. Wir beschlossen, nur mit einem Gast-Visum für drei Monate einzureisen (dieses Visum wurde bis zum Ende des Krieges verlängert – Anmerkung der Redaktion).

Eine Kusine meiner Frau aus Taganrog rief an: „Nun, man kann euch gratulieren, seid ihr schon Russen?“ Wir schicken ihr ein Foto, wo die Menge die Panzer nicht durchlässt, sie glaubt es nicht
Einer meiner Söhne lebt in Russland, und auch wir arbeiteten einst in Magadan, erhielten dort eine Wohnung und freundeten uns mit vielen Menschen an. Einige wandten sich schon 2014 ab, mit anderen sind wir bis zum heutigen Tag in Verbindung, aber niemand glaubt das, was jetzt vor sich geht. Es ruft ein Kumpel aus Magadan an: „Guten Morgen! Und warum seid ihr weggefahren?“
„Andrjuscha, bei euch ist es vielleicht ein guter Morgen, aber wir waren im besetzten Gebiet.“
„Ach was.“
„Wir sind Flüchtlinge. Ein Koffer und ein Rucksack.“
„Aber warum seid ihr weggelaufen, es sind doch unsere Leute gekommen.“

Eine Kusine meiner Frau aus Taganrog rief an: „Nun, man kann euch gratulieren, seid ihr schon Russen?“ Wir schicken ihr ein Foto, wo die Menge die Panzer nicht durchlässt, sie glaubt es nicht.

Zwei Schwestern einer anderen Verwandten leben in Kursk. Sie reden ihr ein, dass nur Militärstützpunkte angegriffen würden. Die Verwandte sagt, dass Mariupol nicht mehr existiere und die Hälfte von Charkow zerstört sei. „Was erzählst du da, die Unseren schießen nicht auf friedliche Leute, was für Lügen verbreitet ihr.“

In den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges tobten Kämpfe um Melitopol – hier verlief der deutsche Ostwall. An ebendieser Linie haben sich die Russen jetzt eingegraben.


Der Augenzeugenbericht wurde am 23. Mai 2022 aufgezeichnet

Übersetzung: Dr. Dorothea Kollenbach